Platten im Test

Alben der Woche: DJ Hell huldigt, Miley Cyrus rockt, AnnenMayKantereit kriseln

Dieses Jahr gibt’s so viel Disco und House im Pop wie schon lang nicht mehr, wir haben es ja auch bitter nötig: Lady Gaga, Dua Lipa, Jessie Ware, Róisín Murphy, Kylie Minogue – und nun huldigt auch der bajuwarisch-berlinerische DJ Hell den Heroen der frühen schwulen House-Kultur Detroits und Chicagos. Ein Album wie geschaffen für den mentalen Partysimulator.

Aber wie sieht’s aus mit den alten Punk-Elektronikern von Cabaret Voltaire – taugen die noch was für den Böse-Buben-Tanzboden? Die einen lieben, die anderen hassen sie: AnnenMayKantereit. Die drei aus Köln sind mittlerweile fast vollständig Berliner: Sänger Henning May und Schlagzeuger Severin Kantereit wohnen fest in Berlin. Gitarrist Christopher „Chrisi“ Annen plant seinen Umzug. Brav so!

Miley Cyrus dagegen will weiter ungezogen sein und zieht sich dieses Mal die 80er an. Wer’s zärtlicher braucht, dem gibt Martin Kohlstedt Klavier.


DJ Hell: „House Music Box (Past, Present, No Future)“ (The Hell Experience Records)

Vintage-House DJ Hell verneigt sich auf seinem neuen Album. Er verneigt sich tief, ganz deep sozusagen, 52 Minuten lang. „House Music Box (Past, Present, No Future)“, so der Titel, ist eine Hommage an all das, was den bajuwarisch-berlinerischen DJ und Produzenten in seinen mehr als vier Jahrzehnten hinter den Decks und an den Reglern geprägt hat.

So würdigt Hell die frühe Chicagoer House- und Gay-Kultur im Club Ware­house/Music Box („Ron Hardy is the true creator of house music”, vocodet er in „Freakshow”); er führt uns in „G.P.S.“ mittels eines Navigationsgeräts ins Berliner Nachtgetümmel („You are now entering Berlin nightlife”), er ehrt den legendären Detroiter Radiomacher „The Electrifying Mojo“ im gleichnamigen Track, und auch den Proto-Hip-Hop-Poeten Gil Scott-Heron hebt er postum aufs Podest – dessen weit in die Zukunft weisender Song „The Revolution will not be televised“ aus dem Jahr 1971 bekommt bei Hell einen housigen Schliff.


In Deutschland gilt DJ Hell (bürgerlich: Helmut Geier) nach seinen Stationen in München, New York und Berlin, nach zahlreichen internationalen Kollaborationen und mit seinem Label International Deejay Gigolos längst selbst als stilprägender Künstler; umso erfreulicher ist es, dass er hier im Pop-Geschichtsbuch blättert und den Sound feiert, mit dem er groß geworden ist (in doppeltem Sinne). Das klingt in einigen Tracks Kraftwerk-geschult und kühl-technoid, dann wieder weicher, wärmer, ummantelnd.

Und, apropos ummanteln: Das Album-Artwork kommt von Jonathan Meese, da lohnt dann wohl auch die Vinyl-Ausgabe. Der nostalgische Ton auf „House Music Box“ passt dabei gut in die Zeit der Club-Zwangspause, die Wörter „No Future“ im Titel dürfen dabei durchaus als Mahnung und Warnung gelesen werden. Und DJ Hell entlassen wir jetzt, nach so viel Verbeugung vor alten Heroen, in die Rückenschule. (Jens Uthoff)


Martin Kohlstedt: „FLUR“ (Warner Classics)

Klavier Ziemlich sicher setzen einige Streamingportale Computer-Algorithmen ein, um belangloses Klaviergeklimper zu komponieren, mit dem man beruhigter einschläft als mit Doc Drostens Corona-Podcast. Seelenlos dekorative Klavier-Springbrunnen. Für solche Beleidigungen des grandiosen Instruments ist Martin Kohlstedt nicht zu haben: Bei ihm hört man die im besten Sinne dreckige Mechanik des Klaviers. Zart ist er diesmal trotzdem, ohne Synthies oder crazy Chor. Auch nice. (Stefan Hochgesand)


Miley Cyrus: „Plastic Hearts“ (RCA/Sony)

80s-Pop-Rock Miley Cyrus hat mit Madonna gemeinsam, dass sie sich gern neu erfindet. Anders als bei Madonna gelingt das eher oberflächlich gut, am Ende kommt doch immer die Zunge raus. Dieses Mal leckt Cyrus vor allem die Gitarre, lädt Joan Jett und Billy Idol auf „Plastic Hearts“ ein und taucht tief in die 80er-Jahre ab. Die Single „Midnight Sky“ leiht sich ein bisschen von Stevie Nicks’ „Edge of Seventeen“ und mischt ein wenig „In The Air Tonight“ drunter“. Charts-tauglich, absolut.

Die Duette mit den Golden Oldies setzen deren Wirken mit modernen, etwas poppigeren Produktionen fort, irgendwo schwimmen bei Zeilen wie „So give me what I want / Or I’ll give it to myself“ dann noch die Nine Inch Nails mit. Das ist Alt-Pop, das ist maximal eingängig. Das Duett mit dem Popstar der Stunde, „Prisoner“ mit Dua Lipa, endet leider sehr dünn, andernorts sind die Reminiszenzen an die 80s-Disko konsequenter. Und die Refrains auch für die Arena gedacht.

Gen Ende dreht Cyrus dann runter und erklärt singend, dass bei ihr falsch sei, wer nach stabil und glaubensfest sucht. Richtig ist dagegen, dass Cyrus eine talentierte Sängerin mit einem Händchen für Hits ist. „Plastic Hearts“ ist eine knackige Platte eines Popstars, der sich weiter neu erfindet, aber nie ganz den Madonna’schen Mut oder deren Tiefe aufbringt. Noch nicht? Gut ist’s trotzdem. (Sebastian Scherer)


Cabaret Voltaire: „Shadow Of Fear“ (Mute/Pias)

Elektronik Von dem einstigen Trio ist nur einer übrig geblieben: Richard H Kirk hat das erste Album von Cabaret Voltaire seit 20 Jahren veröffentlicht. Daraus lassen sich Ansprüche ableiten: Kirk muss sich auch solo der Sheffielder Band, die früh eine Bresche für Industrial, EBM, Noise und Post-Punk schlug, als würdig erweisen und zugleich seinen Ruf als zwar kooperationsfreudiger, aber doch eigenständiger Musiker wahren.

„Shadow Of Fear“ mit seinen acht Stücken löst diese Ansprüche größtenteils ein. Doch zunächst muss man sich durch zwei Tracks aus apokalyptisch-autoritärem Böse-Buben-Sprechgesang zum Zustand der Welt durcharbeiten. Erst dann mixt sich Kirk frei, reist durch die Geschichte der elektronischen Musik von Clock DVA bis Afro Tech, mal tanzbar, mal meditativ, mal beides.

Kurz vor Schluss geht es geschmeidig, aber nicht gefällig zu: Bevor Klänge von Blechbläsern das Leben feiern, schwingen noch einmal metallische Erinnerungen an die geschlossenen Stahlfabriken mit. Das Trauma der Thatcher-Zeit hat Richard H Kirk zwar hinter sich gelassen – die Sounds von Cabaret Voltaire steigen aber noch immer aus Ruinen auf. (Claudia Wahjudi)


AnnenMayKantereit: „12“ (Vertigo Berlin/Universal)

Covid-Blues 2016 muss das gewesen sein mit dem riesigen AnnenMayKantereit-Hype. Drei entspannte Kölner Jungs mit Gefühl, gutem Timing für Rhythmen und eingängigen Melodien – und bald waren die Arenen voll. Vor allem wegen Henning Mays unfassbarer Röhre. Wie alle anderen Musiker hat Corona das Trio nun mit voller Breitseite getroffen, Tourpläne wurden in die Tonne getreten; der kurz vor dem Shutdown veröffentlichte Song „Ausgehen“ fühlte sich plötzlich skurril an, zur Krise passte eher das grandiose „Ich geh heut nicht mehr tanzen“ von der 2018er-Platte „Schlagschatten“.

Und jetzt plötzlich ohne große Vorankündigung das dritte Studioalbum „12“. Und was soll man sagen: Es ist Musik zur Lage, eine Krisenplatte, melancholisch, mitunter sogar düster, das Innere nach außen gekehrt. „Ich glaube, Corona ist berühmter als der Mauerfall und Jesus zusammen, dabei hat es gerade erst angefangen“, so heißt es etwa in dem Song mit dem wunderbaren Titel „Gegenwartsbewältigung“. Und gleich darauf: „Ich hab keine Hoffnung zu verkaufen.“

Das tut teilweise weh, ist aber ehrlich und der Situation angemessen, denn „so wie es war, so wird es nie wieder sein“. Musikalisch setzen die drei wie gehabt auf Reduktion, hier ist nichts überladen, jedes einzelne Instrument wirkt. Bleibt zu hoffen, dass wir bald alle über die hier stimmig formulierten inneren und äußeren Zustände nur noch schmunzeln können. Auf www.annenmaykantereit.com kann man übrigens Annen, May und Kantereit dabei beobachten, wie sie zum ersten Mal ihre neue Platte am Stück hören. Das hat was. (Martin Schwarz)


Mehr Platten im Test: Letzte Woche hat Nick Cave gefleht, 2 Chainz geprotzt und WizKid geschwoft; davor haben wir mit AC/DC geschunkelt und mit Katy J Pearson gefunkelt. Außerdem: Mit Spannung erwarten wird die Cover-EP der in Berlin weltbekannten Beatsteaks.

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