Platten im Test

Alben der Woche: Dua Lipa verheiratet Pop mit Rave, Kelly Lee Owens heilt das Herz

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Kelly Lee Owens; Foto: Kim Hiorthøy

Der Herbst ist kein Softeis-Schlecken in Berlin. Zumindest dann nicht, wenn man ihn als grausamen Grauhimmel-Vorboten begreift, dem jederzeit die unendliche Matsch-Winter-Tristesse folgen kann. Waaaaaaah! Da schadet es nicht, ein paar Alben auf Lager zu haben, die einem das Herz massieren, aber nicht auf die stumpfsinnige, sondern auf die wirklich sensible Art, bitte, sei es elektronisch, wie bei Kelly Lee Owens oder akustisch wie bei Angel Olsen. Beides unbedingte Empfehlungen. Dass Politik und Party kein Gegensatz sein müssen, das beweisen Sault und Nas mit ihren Black-Lives-Matter-Alben.

Manch einer wird auch lachen beim Melonen-Humor der Antilopen-Gang, zumindest im Prenzlauer Berg. Oder bei den coolen Whitney, die das uncoolste „Country Roads“ covern, autsch. Wenn gar nichts mehr hilft, dann kann man aber auch den Pathos-Rock der Killers oder den Pop von Katy Perry riskieren. Oder, und spätestens da vergessen wir den Herbst, mit Dua Lipas neuem DJ-Mix, made by The Blessed Madonna, richtig raven.


Kelly Lee Owens: „Inner Song“ (Smalltown Supersound)

Electronica Fast zu gut, um wahr zu sein, aber der Fun Fact, dass Kelly Lee Owens, 32, aus Wales vor ihrer Karriere als meistgepriesene Electro-Produzentin der Gegenwart Krankenschwester auf einer Krebsstation war, darf bemüht werden, um zu sagen: Den Klangkunst-Umarmungen dieser Frau zu lauschen ist jeder mentalen Heilung zuträglich, sogar das Radiohead-Cover. Gerade jetzt im Depri-Herbst. Das sieht auch Kollaborateur John Cale (einst The Velvet Underground) so. (Stefan Hochgesand)


Sault: „Untitled (Black Is)“ (Forever Living Originals)

Untitled (Black Is)

Funky-Jazz Mittlerweile weiß man, dass hinter Sault, dem superduper anonym auftretenden Kollektiv aus UK, die Londoner Sängerin Cleo Sol und der Produzent Inflo stecken; wie man es schaffen kann, schon das dritte exzellente Album innerhalb von anderthalb Jahren zu veröffentlichen, bleibt allerdings ein Geheimnis. Auf „Untitled (Black Is)“ fließen Soul, Afrobeat, HipHop und Gospel so elegant und pointiert produziert zusammen, dass alle Songs trotz der Wuchtigkeit und Wut der Lyrics vor Schönheit nur so strahlen. Eine stolzere Hommage hat der „Black Lifes Matter“-Bewegung und ihren Protagonist*innen in diesem Sommer niemand geschenkt. (Julia Lorenz)


Dua Lipa: „Club Future Nostalgia“ (Dua Lipa Limited/Universal)

Electro Dua Lipas zweites Album „Future Nostalgia“ ist erst wenige Monate alt, läuft aber so hevorragend (unter anderem dank des Superhits „Don’t Start Now“), dass sich die Popsängerin im Zuge der Kampagne noch einmal ein paar Träume erfüllen durfte: So machte DJane und Producerin The Blessed Madonna (legt auch mal im Berghain auf) aus dem ziemlich kompetenten Original eine sehr kompetente Club-Platte: neue Produktionen für bekannte Songs von Horse Meat Disco (dem Kollektiv, dass auch in Berlin häufiger geile Partys schmeißt) und Joe Goddard (Hot Chip), dazu Jamiroquai- und Neneh-Cherry-Samples, Features von Gwen Stefani (!), Missy Elliott (!!) und Madonna (!!!) – hier meint es jemand ernst. The Blessed Madonna das alles zum 50-minütigen DJ-Mix zusammengepuzzlet, der sowohl bei Pre-Drinks als auch bei der Afterparty funktioniert. Dazu nette Reminiszenz an die Radio-Shows der 90er – die Ehe zwischen Mainstream und Rave lief lange nicht mehr so gut. Für die ganze Nummer gibt es zudem noch ein trippy Video. Welcome to the club. (Sebastian Scherer)


Angel Olsen: „Whole New Mess“ (Jagjaguwar / Cargo)

Songwriterin „All Mirrors“ war eines des stärksten Alben 2019: ein opulent, geradezu glamourös arrangiertes Vordemspiegelstehen mit verschmiertem Lippenstift und runtertriefender Mascara. Drama deluxe. Angel Olsen kann aber auch anders, wenn sie nun „neue“ (von der Entstehung her aber ältere) Versionen dieser Songs vom 2019er Break-Up-Album vorlegt: Nur sie und die hallende Gitarre. Quasi das nackte Album, ganz ohne Lippenstift und Mascara. (Stefan Hochgesand)


Katy Perry: „Smile“ (Capital Records)

Pop Katy Perry hat unbestritten große Popsongs geschrieben – „Roar“ und „Fireworks“ gehören zu den erfolgreichsten Liedern unserer Zeit. Unbestreitbar ist aber auch, dass ihrer stets völlig überzeichneten, bunt-lauten Pop-Persönlichkeit immer ein wenig Substanz fehlte. Oft waren es die etwas reduzierten Stücke, wie „Teenage Dream“, die bemerkenswerter waren als die marktschreierischen Nummern. Das fünfte Albzmn „Smile“ kommt nun passend zur Geburt ihres ersten Kindes, Daisy Bloom, und einer der wirklich guten Songs heißt nicht zufällig auch: „Daisies“. Ähnlich wie beim großartigen Opener „Never Really Over“ trifft hier pure Popmusik auf griffiges Songwriting. Der Rest der Platte ist ein Abbild von allem, was Katy Perry schon einmal getan hat, manchmal besser, manchmal schlechter. „Cry About It Later“ und „Teary Eyes“ sind vergängliche, aber nette Tanznummern. Größer wird es, wenn Katy mal wieder runterdreht, „Only Love“ über ihre Depressionen und schlechten Erfahrungen im Geschäft ist keine weltbewegende Poetik, aber entwaffnend aufrichtig. Zum Album für die Ewigkeit macht aber auch das „Smile“ nicht mehr. (Sebastian Scherer)


Nas: „King’s Disease“ (Mass Appeal)

King's Disease [Explicit]

Rap Die amerikanische Hip-Hop-Legende Nas bleibt sich auf ihrem neuesten Album treu. Musikalisch wie inhaltlich. Entspannte Beats, die seine Stimme perfekt untermalen und sich nie in den Vordergrund drängen. Wer nach Autotune-Elementen sucht, wird (bis auf ein sehr starkes Feature von Lil Durk!) nicht fündig werden. Nas liegt es fern, sich musikalisch zu verbiegen – und wirkt dabei trotzdem keineswegs gestrig. Inhaltlich steht das Album des seither gesellschaftskritischen Künstlers im Zeichen der Black-Lives-Matter-Bewegung, gibt sich dabei aber eher selbstbewusst als akut kämpferisch. Mit „Ultra-Black“ hat Nas zusammen mit Hit-Boy, der auch das gesamte Album produzierte, eine stimmige Hymne auf das afroamerikanische Leben aufgenommen. Und am Ende sogar The Firm wiedervereint, inklusive Foxy Brown, die sich zuletzt chronisch rar machte. Nas gelingt „King’s Disease“ genauso politisch wie es ein US-amerikanisches Album zurzeit zu sein hat, setzt aber mitunter auch andere thematische Akzente. Durchdacht, gelassen, souverän. (Benedikt Kendler)


Whitney: „Candid“ (Secretly Canadian / Cargo)

Folk-Pop Whitney, die aus Chicago stammen, klingen wie Chicago, die Band: sauber, poppig, aber auch nach Soul und Americana. Chicago, die Band, fehlt aber auf diesem Cover-Album. Stattdessen bekannte Namen wie David Byrne oder Damien Jurado, Jungstars wie Kelala und alte Herren wie John Denver. Dessen „Country Roads“ ist das peinliche Lieblingsstück, die restliche Auswahl sagt dagegen: Guckt mal, wir kennen uns richtig gut aus. Klingt dann aber alles nach Whitney. Oder eben Chicago. (Thomas Winkler)


Antilopen Gang: „Adrenochrom“ (Antilopen Geldwäsche / Warner)

Adrenochrom [Explicit]

Deutsch-Rap Der Titel des inmitten der Coronapandemie entstandenen und überraschend sowie ohne Werbekampagne veröffentlichten Album der Antilopen Gang gibt schon die Stoßrichtung vor: Beim titelgebenden Adrenochrom handelt es sich um ein Stoffwechselprodukt, das QAnon-Verschwörungstheoretikern zufolge aufgrund seiner angeblich verjüngenden Wirkung von einer globalen Elite systematisch kleinen Kindern entzogen wird. Aha. Die variantenreich geflowten Tracks befassen sich abseits der momentan grassierenden Verschwörungstheorien und ihren prominenten Vertretern auch mit kleptomanischen Exzessen im KaDeWe, bewaffneten Aufständen gegen Vermieter und Nazi-Verklopp -Fantasien. Obwohl durchgehend einen politischen Anspruch mit sich tragend, bevorzugen die (mittlerweile zu zwei Dritteln in Berlin lebenden) Antilopen zumeist einfaches Phrasendreschen anstatt tiefgreifender Analysen. Zusätzlich verlieren sich einige der Songs in kompletter Belanglosigkeit, zum Beispiel wenn von Melonenwürfen auf den US-Rapper Post Malone gefaselt wird. Hahaha. Insgesamt trotzdem eine gelungene musikalische Begleitung für die bürgerliche Linke in Prenzlauer Berg. (Benedikt Kendler)


The Killers: „Imploding The Mirage“ (Island / Universal)

Pathos-Rock Vom monströsen Cover-Kitsch über die melodramatischen Synthieflächen und das sphärische Frauengesäusel bis zum theatralischen Gesang von Brandon Flowers: The Killers geben sich auf ihrem sechsten Album wieder alle Mühe, ihr Image zu bestätigen. Die Pathos-Könige des Soft-Rock drücken auf die Emotionsdrüse – und zwar kräftig und ohne Unterlass. Zwischentöne gibt es nicht, dafür möglichst knallige Laut-leise-Effekte und verlogene Ergriffenheit. Wer‘s mag. (Thomas Winkler)


Wer auf der Suche nach neuen Platten ist, wird in Berlins besten Plattenläden fündig. Vielleicht Lust auf karibische Rhythmen, ein schwuler Papa und Taylor Swift ohne Bombast? Oder doch eher auf eine Zeitreise? Feiern wie 1999 mit Brandy und Alanis Morissette – und vorwärts mit Arca. Zuletzt überraschten uns Bright Eyes auch mit Dudelsack und Troye Sivan lud zur Emo-Achterbahn.

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