Platten im Test

Alben der Woche: Glitzerboy Declan McKenna kämpft, KitschKrieg vereint

Was für eine Aufregung, Mann, oh, Mann! Noch Mitte der Woche schien es sicher, dass der britische Glamour-Wonderboy Declan McKenna, 21, der gern gegen Queerphobie und sonstige Engstirnigkeiten ansingt, sicher auf die Nummer 1 kommt im Vereinigten Königreich. Bis dato hatte er mehr verkauft als die Rolling Stones mit der Re-Issue ihres 1973er Albums „Goats Head Soup“. Dann sind aber offenbar die Stones-Fans doch noch aufgewacht. Nun gibt’s ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Außerdem haben wir für euch diesmal das womöglich beste Jazz-Album des Jahres und auch ein experimentell-eingängiges, um Grapefruit-Rosé mit Godzilla zu schlürfen. Zudem: ein Tribut an eine Legende und das gefragteste Berliner Hip-Hop-Kollektiv.


Declan McKenna: „Zeros“ (Columbia / Sony)

Zeros [Explicit]

Indie Rock Ist das Arcade Fire? Arctic Monkeys? Queen? Milky Chance? Nein, das ist der 21-jährige Declan McKenna mit seiner Platte „Zeros“. Mit fünfzehn kritisierte er in seinem Song „Brazil“ die Korruption während der Fußball-WM 2014, nun setzt er das Gefühl der Generation Z musikalisch um. Die Themen, denen sich der Brite in zehn Songs widmet, reichen vom Druck durch Social Media über die Suche nach Sinn über Kritik an Religion bis zu damit verbundenen Selbstzweifeln und der Herausforderung, in einer komplex scheinenden Welt seinen Platz und seine Identität zu finden. Was die Songs eint: ein optimistisch-upliftender Beat über Gitarren und Synthesizern – meistens. Mal streut er noch eine Geige ein, mal das Klavier.

Stimmlich zeigt Declan McKenna eine kratzige Note mit einer weiten Range, die den Frust einer Generation aufnimmt. Außerdem lässt die Produktion Raum für Interludes und Outros, und eröffnet Declan McKenna damit die Möglichkeit, seine Gedankengänge zu verarbeiten. Klanglich merkt man dem jungen Musiker an, dass er vom britischen (Indie-)Rock stark beeinflusst wurde und zwischen all den Größen herumexperimentiert, weswegen es sein Album musikalisch an einer Stringenz mangelt, die er thematisch und stimmlich eigentlich gekonnt rüberbringt. Anderserseits ist es auch wieder interessant, dass es bei „Zeros“ scheint, als würde Declan McKenna selbst noch seinen Sound suchen. Auf der Meta-Ebene passt das dann doch wieder zu seinen Themen. (Klaudia Lagozinski)


Widowspeak: „Plum“ (Captured Tracks / Cargo)

Dream-Americana Zugegeben: Das Erfolgsrezept von Widowspeak, mal leicht psychedelische, mal eher folkige Americana, über der eine leicht ätherische Frauenstimme verträumt singt, ist simpel. Und ja, auch auf ihrem fünften Album „Plum“ hält das Duo aus New York unbeirrt an diesem Konzept fest. Aber das ist gut so, sehr gut, denn kaum jemand lässt berückende Melodien so selbstverständlich über träge gezupfte Gitarren schweben wie Molly Hamilton und Robert Earl Thomas. (Thomas Winkler)


Makaya McCraven: „Universal Beings E&F Sides“ (International Anthem / !K7 / Indigo)

Jazz Auf dem 2018er Album „Universal Beings“ erfrischte der Drummer und selbsternannte „Beat Scientist“ Makaya McCraven den Jazz durch seine markante Mischung aus Live-Improvisation und Beat-Tüftelei. Der heute 37-jährige war in vier Metropolen des modernen Jazz gereist (New York, Los Angeles, London und Chicago), um mit Musiker*innen der lokalen Szenen spontane Jamsessions aufzunehmen, die anschließend auf seinem Gesamtwerk landeten. Auch die nun veröffentlichten „E&F Sides“ stammen aus diesen Sessions und sind gleichzeitig der Soundtrack zu einem kurzen Dokumentarfilm über den besonderen Entstehungsprozess von „Universal Beings“. Dadurch stehen die 14 Tracks zwar ein bisschen im Schatten des „Hauptwerks“, aber verdienen sich musikalisch allemal eine eigene Daseinsberechtigung.

Denn McCraven ist bei seiner Methode, einzelne Fragmente der Jams zu sampeln, offensiver geworden – ohne die jazzige Live-Atmosphäre der Aufnahmen dem nachträglichen Beatmaking zu opfern. Die warmen Saxofonklänge der UK-Jazzstars Nubya Garcia und Shabaka Hutchings weben sich ebenso organisch um die holzig-akustischen Schlagzeug-Loops und den wummernden Kontrabass wie der reiche Gitarrensound von Jeff Parker. Mal spielen Geige, Harfe oder Vibrafon sphärische Harmonien – mal sorgt ein sattes E-Piano für unvermitteltes Kopfnicken im Takt. Eine anspruchsvolle Collage, die stets die Handschrift des Beat Scientist aus Chicago trägt. (Linus Rogsch)


Genevieve Artadi: „Dizzy Strange Summer“ (Brainfeeder / Rough Trade)

Avant-Electro-Pop Dass wir einen dusligen, seltsamen Sommer gerade verabschieden – darauf kann man wohl Gift nehmen. Und das perfekte Album dafür ist eines, das während eben jenes Sommers völlig zu Unrecht außerhalb der meisten Radars war: „Dizzy Strange Summer“ von Genevieve Artadi; Kenner*innen ein Begriff vom US-Electro-Duo namens Knower. Klanglich hat das zweite Solo-Album von Genevieve Artadi (dieser Name schon!) durchaus was von der kanadischen Kollegin Grimes, also: bei allem Spaß, den der Electro-Experimentierkasten bringt, doch immer auch genug Balance-Gespür dafür, auf dem äußerst schmalen Grat zwischen Eingängigkeit und Avantgarde-Aquarium zu wandeln. Und das, obwohl einem ja, wie schon gesagt, duslig werden kann bei diesem Sommer. Während Grimes eher was für den Emo-Darkroom ist, gehen wir mit Genevieve Artadi aber an einen psychedelisch sonnenüberstrahlten Strand, wo wir uns dizzy trinken mit Grapefruit-Rosé und, wankelnd, mit Godzilla und anderen Wonderland-Gestalten im Midtempo schwofen, bis wir uns irgendwann zu den Artadi’schen Synthie-Balladen in den Sand fallen lassen und sagen: „Scheiße, war das ein Sommer, aber egal, YOLO!“ Oder wie die Kids heutzutage sagen: „Carpe Diem!“ Dope! (Stefan Hochgesand)


KitschKrieg: „KitschKrieg“ (Soulforce / BMG / Warner)

Hip-Hop Das Berliner Produzententrio KitschKrieg, vornehmlich durch die Zusammenarbeit mit dem Chemnitzer Rapper Trettmann bekannt geworden, hat nun ein selbstbetiteltes Debüt-Album herausgebracht, auf dem es ganze 21 Künstler vereint. Viele von ihnen entstammen der Deutschrapszene, aber auch Nena, Ali Neumann oder AnnenMayKantereit sind dabei. Das Credo: Musiker zusammenbringen. Und das immerhin gelingt auf den zwölf Songs ausgesprochen gut, zum Beispiel wenn Trettmann und Peter Fox sich auf „Lambo Lambo“ an mit Konsumwahn einhergehendem Egoismus abarbeiten – und dabei musikalisch wunderbar harmonieren. Ein anderes Motiv ist die Kombination von Old- und Newschool: So interpretiert Jamule den Seeed-Hit „Aufstehen“ neu, der in der Hip-Hop-Szene anerkannte „King of Rap“ Kool Savas zeigt sich auf einem Song mit RIN musikalisch ungeahnt vielschichtig. Und Max Herre gelingt zusammen mit dem Newcomer Skinnyblackboy ein so runder Track, dass man sich eine weitere Zusammenarbeit der beiden wünscht.

Generell klingt der von jamaikanischem Trap und Dancehall inspirierte Sound des Künstlerkollektives KitschKrieg gewohnt minimalistisch; die Beats, harmonieren perfekt mit den jeweils auf ihnen performenden Künstlern. In diesem Sinne, ist „KitschKrieg“ ein hervorragendes Album mit spannenden Prämissen und Konzepten, dass nur an einigen Stellen noch einen Tick experimentierfreudiger hätte geraten dürfen. Messen muss sich aber an seinem eigenen Anspruch: Zeitlosigkeit. Und diesem Maßstab genügt es nur bedingt, denn leider fällt es zurück hinter gestrige Debatten. Künstler wie RIN (rappte über Vergewaltigungsfantasien), der jamaikanische Dancehallkünstler Vybz Kartel (sitzt wegen Mordes lebenslang im Knast) oder Bonze MC (verspottete Opfer häuslicher Gewalt), bilden tragende Pfeiler des Albums – ohne dass ihre zweifelhaften Taten in irgendeiner Weise teil eines Reflexionsprozesses sind. Das enttäuscht, auch deswegen, weil sicher einige der auf „KitschKrieg“ vertretenen Künstler etwas zu der Thematik beizutragen gehabt hätten. (Benedikt Kendler)


Various Artists: „AngelHeaded Hipster: The Songs Of Marc Bolan and T.Rex“ (BMG)

Tribut Am 16. September 1977 ging für eine ganze Generation die Welt unter. An diesem Tag starb in seinem Mini Clubman 1275 GT Marc Bolan, Gründer und alleiniger Kopf der Glam-Rock-Legende T.Rex. Er wurde nur 29 Jahre alt, war aber unfassbar einflussreich, nicht nur als Musiker. Er arbeitete auch als Journalist, Fernsehmoderator und -produzent und förderte in dieser Funktion Bands wie die Boomtown Rats und The Jam. Selbst Dieter Bohlen benannte seinen ersten Sohn nach Marc Bolan. Ein großes Tribut-Album blieb ihm bis heute verwehrt, vermutlich weil er eben doch als Teenager-Idol starb. Jetzt hat der große Produzent und Musikkenner Hal Willner das Doppel-Album „AngelHeaded Hipster“ zusammengestellt. Willner hatte bereits Künstler wie Nino Rota, Thelonious Monk, Kurt Weil und Charles Mingus mit Tribute-Alben gehuldigt. Da wirkt „AngelHeaded Hipster“ wie ein Ritterschlag.

Als Markenzeichen des ehemaligen Musikchefs von „Saturday Night Live“ stand schon immer eine eher erratische Mischung von Künstlern. Das hat er diesmal auf die Spitze getrieben: Bolans Erkennungssong „Children Of The Revolution“ darf ausgerechnet Ke$ha covern, Nick Cave gibt den „Cosmic Dancer“ (passt schon eher). Dann aber: Peaches blamiert sich mit dem überproduzierten „Solid Gold“, U2 klingen mit Elton John als Sänger mal nicht nach Schülerband auf Ecstasy. Und „Metal Guru“ von Nena? Im Ernst? Weitere Mitwirkende sind beide Söhne von John Lennon, Lucindas Williams (die kann nichts falsch machen), Beth Orton, Joan Jett, Father John Misty und Maria McKee. Hal Willner, der an diesem Album seit vielen Jahren gearbeitet hat, verstarb leider im April im Alter von 64 Jahren in New York an den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion. Daher machen einige Tracks den Eindruck: Da hätte man noch mal nachproduzieren müssen. Andere dagegen sind perfekt, so wie sie sind. (Lutz Göllner)


Wenn euch Makaya McCraven diese Woche gefällt, solltet ihr auch bei Nubya Garcia unbedingt reinhören. Wer lieber raus will, geht vielleicht ins Berghain auf der Art Week – doch wie gut ist die schwer gehypte Ausstellung dort eigentlich wirklich? Falls ihr euch letztlich dagegen entscheidet oder doch mal was anderes wollt als immer nur „Hain“, dann aber wir auch viele andere Tipps für dieses Wochenende. Enjoy!

Vergangene Woche hat Sophie Hunger bei den Alben der Woche halluziniert und Tricky getrauert. Und davor gab es Grund zum Tanz: Dua Lipa verheiratete Pop mit Rave, Kelly Lee Owens heilt das Herz.

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