Platten im Test

Alben der Woche: International Music träumen, Dinosaur Jr. krachen

International Music ist einfach der beschissenste Name, den man sich als Essener Band ausdenken kann, um im Internet gefunden zu werden. Aber wie das Schicksal es will, hat die Band mit dem großspurigen Namen dann tatsächlich die deutschsprachige Musikkritik um den Finger gewickelt – und auch unseren Kritiker. Tenor: geilste Band der Stunde, darf bei unseren Alben der Woche nicht fehlen. In London, wir geben es als Berliner:innen immer nur zähneknirschend zu, steigt der Jazz seit Jahren zu ungeahnten Höhen auf. Die Jazz-Band des Rappers Alfa Mist ist ganz vorne dabei. Wer Erholung vom hochkarätigen Krach von Dinosaur Jr. braucht, wird hingegen fündig in Berlin und Tokio: beim Ambient von Yair Etziony und beim J-Folk der Japanerin Satomimagae. Wenn das mal nicht international music ist!


International Music: „Ententraum“ (Staatsakt/Bertus)

Versatzstück-Pop Man könnte jetzt mit dem Zitieren anfangen. Eine Zeile bizarrer als die andere, ein Textauszug irritierender als der nächste Reim. Aber fangen wir doch mal zur Abwechslung lieber mit der Musik an, die die Lyrik transportiert. Es beginnt, als hätten sich The Byrds im schottischen Hochland verlaufen. Die Gitarren jängeln in acht Meilen Höhe und unten, im Nebel scheint sich ein Dudelsackorchester versammelt zu haben, aber noch nicht ganz einig zu sein, welche Melodie jetzt dran ist.

Der Einstieg in ihr zweites Album „Ententraum“ illustriert schön, wie International Music so Musik machen: Man kennt die Versatzstücke aus der Popgeschichte, aber sie sind nie genau dort, wo sie hingehören. Krautrock und Gothic, Indie-Pop und Post-Punk, Space-Rock und Dream-Pop, Melancholie und Euphorie, Lakonie und Wichtigtuerei, irgendwie passt das eine nie zum anderen, aber – und das ist die große Kunst der Band aus Essen – am Ende klingt es dann doch wieder vollkommen rund.

So rund hatte „Die besten Jahre“, das zweieinhalb Jahre alte Debütalbum von International Music noch nicht geklungen. Die ruhrpotthafte Sperrigkeit, das kumpelig Verrauchte ist auf „Ententraum“ einer geisterhaften Intellektualität gewichen, die sich aber zum Glück nie allzu ernst nimmt, ohne gleich wieder auf selbstironischen Sicherheitsabstand zu gehen.

Und hier müssen wir dann doch mit dem Zitieren anfangen: „Die Insel der Verlassenheit hab’ ich im Traum geseh’n/ Die Höhle der Vernunft, sagt man sich, sei wunderwunderschön“, singen sie mehrstimmig. Oder: „Die Erosion meiner Lust ist die Korrosion unserer Liebe“, als wollten sie den Blumfeldschen Diskurs-Pop zum Leben erwecken. Aber auch: „Ich will wie immer ein bisschen Zucker, ein bisschen Zucker“, und es klingt wie eine Parole, für die man auf die Barrikaden steigen möchte, wenn man nicht schon genauso viel Lust hätte, in diesem Album zu versinken wie in einem guten Buch. Ja, all das und alles auf einmal kann „Ententraum“. Große Platte. (Thomas Winkler)


Alfa Mist: „Bring Backs“ (Anti-/Epitaph/Indigo)

UK-Jazz Nach seiner Solo-­Piano-EP ist Alfa Mist zurück als Jazz-Bandleader, aber auch hier gibt sein Tastenspiel die Tonalität vor, wenn er auf den Fender Rhodes Moll-Akkorde anschlägt oder auf Tönen verweilt, um danach wieder das Schlagwerk zu überholen. Intensiv dynamisch: die aufbrausende Trompete. Die Vokalistinnen verzweifeln an Missverständnissen und der Trägheit des sozialen Wandels. London ist einfach eine, nein, die Top-Adresse für jungen Jazz. (Stefan Hochgesand)


Yair Etziony: „Further Reduction“ (False Industries)

Further Reduction

Ambient Corona tut den Menschen nicht gut. Doch trotz fehlender Auftritte scheint das isolierte Arbeiten für manche Musiker eine Chance zu sein. Der Berliner Yair Etziony jedenfalls hat – nach „ENXIO“ – mit „Further Reductions“ schon das zweite Album im diesem Jahr veröffentlicht. Er übersetzt die allgemeine Erschöpfung durch Lockdown & Co. in spartanische, grübelnd fließende Ambient-Aerosole. Man kann darin ein musikalisches Gegenstück zur allgemeinen Leere erkennen – oder offenen Raum zum Denken. (Tim Caspar Boehme)


Satomimagae: „Hanazono“ (RVNG Intl./Guruguru Brain)

J-Folk Satomimagae ist aufgewachsenem am Rande des größten Ballungsraums der Welt: Tokio. Auf ihrem vierten Album gesellt sich die Elektrische zu ihrem verhuschten, geloopten Gesang und zu den Feldaufnahmen und Noises. Man kann sich gut vorstellen, zu diesem Soundtrack in einer der ruhigeren Tokioter Seitenstraßen zu flanieren, Sesam-Eis zu naschen und streunende Kätzchen zu beobachten. Wer’s mag, dem sei auch der J-Folk-Sampler „Minna Miteru“ empfohlen. (Stefan Hochgesand)


Dinosaur Jr.: „Sweep It Into Space“ (Jagjaguwar/Cargo)

Sweep It Into Space

Indie-Rock Es grenzt an Blasphemie, aber: Ist womöglich „Garden“ der beste Song dieses fünften Albums von Dinosaur Jr. seit der Wiedervereinigung in Originalbesetzung? Ist er doch komponiert und gesungen von Bassist Lou Barlow, nicht von Gitarrengott, Banddiktator und Obergrummler J Mascis. Nicht nur das, auch die sonstigen, ausnahmslos grandiosen Songs deuten darauf hin, dass es in der legendär einflussreichen wie legendär zerstrittenen Band so entspannt wie nie zugeht. Das Ergebnis: die schönste Balance zwischen Krach und Melodie, Brutalität und Zärtlichkeit. (Thomas Winkler)


Mehr Musik

Mehr Platten im Test: Vergangene Woche sahen wir London Grammar auf der Überholspur und haben das neue Paul-McCartney-Coveralbum gehört. Geht das echt oder ist das Banane? Thundermother wollen im Mai Corona-Helden belohnen im Olympiastadion belohnen; wir haben Die Ärzte im Interview – sie sagen: „Unsere Fachrichtung ist Optimismus“. Wir erklären euch, wie der virtuelle Club Rave Space Clubnächte in Wohnungen bringen will. Eine unserer Lieblingspartys ist Gayhane – ein opulenter Bildband feiert die queere Multikulti-Partyreihe.

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