Das gab’s ja auch noch nie bei unseren Alben der Woche: gleich fünf Mal die fünf Sterne, volle Punktzahl, Checkpot Charlie! Sind wir einfach zu nett diese Woche? Nein, keine Sorge, so nett sind wir gar nicht. Wenn was Mist ist, sagen wir es auch, so wie man das in Berlin macht, im Alltag wie bei Alben – so wie bei diesem drittklassigen Weihnachtsmarktsoundtrack von Sigur Rós. Wie man zünftig meditiert, das hätten sie sich mal bei Grandmaestro und Ex-Berliner Nick Cave ablauschen sollen. Oder bei unserem Jetzt-Berliner Nils Frahm, der das Funkhaus Nalepastraße zum Brodeln brachte.
Die großen internationalen Entdeckungen bei unseren Alben der Woche stammen derweil aus dem Rap: Megan Thee Stallion, Shygirl, Quakers. Rappen können wir in Berlin aber auch, seit Haiyti nach Berlin gezogen ist. Muss ja niemand wissen, dass sie ursprünglich aus Hamburg kommt. Schwamm drüber! Unsere Alben der Woche in der Kritik.
Haiyti: „Influencer“ (Hayati Musik/Warner)
Rap Je angesagter die inzwischen von Hamburg nach Berlin gezogene Rapperin Haiyti zu sein scheint, desto weiter geht die Schere auf zum tatsächlichen Erfolg, der sich im Rap-Geschäft immer noch nach Umsätzen bemisst. Das geht Ronja Zschoche schon lange auf den Nerv – und das kann man auf „Influencer“, dem zweiten Album, das sie innerhalb nur eines halben Jahres nun herausbringt, so deutlich hören wie nie zuvor. Der unbedingte Wille zum Hit führt aber zum Glück nicht in die Belanglosigkeit, sondern nur in Tokio-Hotel-Zitate und klasse Pop-Songs wie „Star und zurück“, „Comeback“ oder „Holt mich raus“. (Thomas Winkler)
Nils Frahm: „Tripping With Nils Frahm“ (Erased Tapes/Indigo)
Elektronik + Klavier Erstaunlich, wie sich auf Nils Frahms Trip zugleich abheben und auf dem Boden bleiben lässt. Im Jahr der geschlossenen Konzertsäle veröffentlicht der Berliner Klavierspieler und Komponist acht Stücke von früheren Auftritten im Funkhaus Nalepastraße. Und man kann nur dankbar dafür sein: Von „Enters“ bis „#2“ perlt, jazzt, elektronikt es so dezent neoromantisch und doch glasklar, dass die aufs Home-Office beschränkte Welt wieder weit wird. Denn Frahm kennt die Raumakustik des Funkhauses bestens – und die zeitgenössische E-Musik zwischen Reykjavik und Helsinki. (Claudia Wahjudi)
Sigur Rós: „Odin’s Raven Magic“ (Krunk/ADA/Warner Classics)
Orchesterkitsch Was ist das für ein Mist? Wenn nicht der teure Name der besten isländischen Band, den Art-Drama-Rockern von Sigur Rós, draufstehen würde, könnte man diesen Orchester-Chor-Bombast mit Marimba-Garnitur für einen drittklassigen Weihnachtsmarktsoundtrack halten.
Tatsächlich war die Produktion samt Chor und Orchester und eigens gebauter Instrumente irre aufwendig. Frei nach Dolly Parton: Es ist verdammt teuer, so billig zu sein. Das Machwerk bezieht sich übrigens auf eine Eis-Apokalypse aus der nordischen „Edda“-Saga. Mit den „richtigen“ Alben der Band hat das kaum zu tun, auch wenn Jónsi etwas singt. Wo Sigur Rós draufsteht, ist diesmal nur heiße, ach was, nein, inzwischen sogar nur abgestandene Vulkanluft von 2002 (da wurde das Werk komponiert) drin. Wer wirklich Sigur Rós will, muss wohl zum neuen Solo-Pop-Album des Sigur-Rós-Sängers Jónsi greifen, das ist wirklich gut. (Stefan Hochgesand)
Megan Thee Stallion: „Good News“ (300/Atlantic/Warner)
HipHop Ad-libs nennt man im HipHop kurze Geräusche und Phrasen, für die Rapper*innen berühmt sind – wie zum Beispiel Lil’ Wayne für sein einprägsames „What?!“. Den Signatur-Sound der US-Künstlerin Megan Thee Stallion kann man, genau wie ihren rasanten, knochentrockenen Rapstil, schon aus ihrem mit Cardi B aufgenommenen Sommerhit „WAP“ kennen: Es ist ein leidenschaftliches „Äääh!“, das nach einer Mischung aus Zungerausstrecken und Lustschrei klingt. Womit ein Hauptanliegen der Newcomerin gut beschrieben wäre.
Songs wie „Body“ sind saftige Oden an Sex und Selbstbestimmung, vor allem auch an Megans Körper, an dem in erster Linie sie selbst Spaß haben soll – und nicht die blöden Typen, die ihr eh nicht das Wasser reichen können. So avantgardistisch manchen ihre Lyrics vorkommen mögen, so wundervoll oldschool sind manchmal die Beats, über die Megan Thee Stallion ihre Empowerment-Kaskaden rappt. (Julia Lorenz)
Yungblud: „Weird!“ (Interscope/Universal)
Remmidemmi-HipHop-Rock Emo-Pop-Punk, das hätte man für ein Phänomen der 2000er halten können. Aber das regenbogenbunt-angemalte und mit schwarzem Lippenstift verzierte Genre denkt gar nicht ans Aufhören – und hat mit Yungblud nun sogar seinen neuen Superstar gefunden.
Nach „21st Century Liability“ aus 2018 folgt dieses Jahr das zweite Album, und trägt den vollends postmodernen Sound zwischen Pop und Punk, Queen-hafter Theatralik, einer große Prise Emo, Babymetal und Hiphop weiter. Das kann man nervtötend finden, schließlich ist das Musik wie ein Bootleg-Bandshirt, das man auf irgendeinem Markt gefunden hat und dessen schlechter Druck und Photoshop-Motiv einem schon beim Auspacken peinlich sind, aber Yungblud schafft es, das ganze mit einer sympathischen Wahrhaftigkeit und unglaublichen Energie vorzutragen. The Kids sind schon alright. (Aida Baghernejad)
Nick Cave & Nicholas Lens: „L.I.T.A.N.I.E.S“ (Deutsche Grammophon/Universal)
Meditationen Was, schon wieder ein Album von Nick Cave? Hat der nicht erst vor paar Wochen seine tolle Pianoman-Platte „Idiot Prayer“ herausgebracht? Aber diesmal singt er nicht selbst. Nein, er hat für den Brüsseler Komponisten Nicholas Lens das Libretto geliefert. Piano, Klarinette, Fagott und auch etwas Saxofon meditieren. Dazwischen ziehen Violine, Bratsche, Cello kleine Schlieren. Der Bariton croont sogar leicht cavig. Heilsam wie japanische Steingärten vor Kyōto. (Stefan Hochgesand)
Shygirl: „Alias“ (Because/Caroline/Universal)
Garagengrime Sieben Stücke, sieben Persönlichkeiten, ein wilder Ritt durch verschiedenste Musikstile aus Pop und Underground. Die selbstbewusst auftretende Shygirl rappt sich auf ihrer EP „Alias“ mal gelangweilt-arrogant, mal im hektischen Stakkato durch eine Melange aus Trapsounds, Grime und UK Drill. Was stellenweise an die Energie der frühen M.I.A. erinnert, entgrenzt sich spätestens bei ihren Flirts mit der Trashkultur um den Bigroom House der frühen 2000er.
Derartige musikgewordene Flammenhemden sollten aber nicht abschrecken: die Club-Hymne „Tasty“ allein würde für eine starke EP reichen; die derart stimmige Verquickung von UK Garage und poppig anmutenden Lyrics dürfte Tanzflächen verschiedenster Couleur füllen – wenn sie denn aufhätten. (Ben-Robin König)
Quakers: „II: The Next Wave“ (Stones Throw Records/PIAS)
Psychedelic Rap 2020: Die Welt geht vor die Hunde, wir sind selbst dran schuld, und eine Pandemie zeigt zudem die Grenzen unserer Allmacht auf. Genau der richtige Zeitpunkt für die Rap-Supergroup Quakers aus Geoff Barrow von Portishead, und den Produzenten Supa K (einst bekannt als Katalyst) und 7-Stu-7, mal mit der Menschheit als solcher abzurechnen. In 33 Tracks mit 31 Gästen auf 54 Minuten. Das klingt erstmal anstrengend, aber keine Sorge: Die psychedelisch angehauchten Oldschoolbeats des Albums lassen das Ganze zu einer entspannten Einheit verschmelzen, auf der die Gäste wie Oldschool-Legende Jeru the Damaja, zeitgenössische Stars wie Sampa the Great und Newcomer*innen wie Koreatown Oddity so richtig erstrahlen können. Ein in seiner politischen Wut trotzdem – oder gerade deswegen – tröstliches Meisterwerk. (Aida Baghernejad)
Mehr Platten im Test: DJ Hell huldigt, Miley Cyrus rockt, AnnenMayKantereit kriseln; Vor zwei Wochen die Höhepunkte in unseren Plattenkritiken: Nick Cave fleht, 2 Chainz protzt, WizKid schwoft. Außerdem haben wir die 12 wichtigsten Weihnachtslieder aus Berlin, von David Bowie bis Die Ärzte – kennt ihr sie schon?