Platten im Test

Alben der Woche: Lana del Rey unterm Chemtrail, Die P im harten Bonn

Lana Del Rey hat sich 2020 gründlich daneben benommen, nein, sie hat sich unmöglich verhalten. Gerade als sie von der Musikkritik dank ihres Albums „Norman Fucking Rockwell“ (2019) richtig ernst genommen wurde, meinte sie, mit einem Werbe-Post für ihren Gedichtband aufmerksam machen zu müssen, den man im besten Fall als mürrisch-beleidigt und im schlechtesten Fall als rassistisch verstehen konnte. Dann tauchte sie auch noch mitten in der Corona-Pandemie zu einer Signierstunde in Los Angeles auf mit einer todschicken, aber auch todgefährlichen (weil eher aus Löchern denn aus Maske bestehenden) Maske auf. Jetzt lautet die große Frage: Ist die neue Platte so gut, dass man den Menschen Lana Del Rey hinter der Musikerin Lana Del Rey vergessen kann, für ein paar Tracks lang?

Was gibt’s sonst noch? Electric Jalaba nehmen uns mit auf einen Wüstentrip in Trance. William Doyle hat seine Festplatte geschrottet und deshalb mit Kassetten-Aufnahmen experimentiert. Adrian Younge klärt mit Soul und Streamingfilm über rassistische Verbrechen auf. Die Straßenrapperin Die P malt eine Hip-Hop-Szenerie von Bonn, dass Berlin etwas blass aussieht. Aber der Berliner namens Sicker Man rettet dann doch noch unsere Ehre mit abgefahrenen Noise-Improvisationen.


Adrian Younge: „The American Negro“ (Jazz Is Dead/Indigo)

Woke-Soul Adrian Younge ist Filmkomponist, Musikproduzent, Labelbetreiber, Plattenladenbesitzer und, ach ja, Rechtsanwalt. Das Multitalent hat folgerichtig nicht nur ein Album aufgenommen, das großartigen Soul als Vehikel für eine Aufklärungseinheit zur Geschichte der Sklaverei nutzt, sondern ergänzt diese Lehrstunde mit einem Kurzfilm auf Amazon Prime Video und dem vierteiligen Podcast „Invisible Blackness“. Doch, Musik kann einen echt schlauer machen. (Thomas Winkler)


Lana del Rey: Chemtrails Over The Country Club (Universal)

Songwriter-Pop Mit sehr hoher Stimme eröffnet Lana del Rey ihr neues Album, erzählt vom Leben als Kellnerin, damals vor dem Ruhm, bevor sie zur Americana-Poetin einer Generation wurde, und es lässt sich wahrnehmen, dass seitdem nicht alles gut ist. Die ungewöhnliche Stimmlage ist damit dann aber auch erst einmal das einzige, was am neuen Album mit dem eigenwilligen, diffus in die Zeit passenden Titel überraschend ist. „Chemtrails“ verschiebt die Erzählperspektive del Reys von LA etwas weiter in das Herz der USA, etwa in den religiösen Süden („Tulsa Jesus Freak“), oft wird es jazziger, wenig Bombast, dafür auch mal Mundharmonika, ein bisschen Blues, sanfter Wildwest, nie aber ohne große Melodien, die beherrscht sie.

Del Rey wirkt ein wenig ermüdet, nicht im Vortrag, eher in den textlichen Zwischentönen. Als hätte sie den Ruhm satt, Los Angeles, den Wettlauf gegen alles und sich selbst. Revolutionär im Kontext ihres Gesamtwerkes ist nichts daran, aber es ist präzise genug modelliert, um sich doch ein Stück weit vom grandiosen Vorgänger „Norman Fucking Rockwell“ abzugrenzen – ohne nennenswerte Qualitätseinbußen zudem. Schade nur, dass das, wie oben beschrieben, auf diverse schwierige Äußerungen der jüngeren Vergangenheit nicht genauso zutrifft. Das ausblendend: starke Platte.


Electric Jalaba: „El Hal – The Feeling“ (Strut Records/!K7/Indigo)

Trance In der marokkanischen Gnawa-Musik ist der Weg das Ziel: Trance. Das britische Sextett Electric Jalaba modernisiert die shufflenden Rhythmen behutsam mit Rock-Instrumenten und elektronischen Mitteln, bewahrt aber das kulturelle Erbe des Stils, das von den polyglotten Vocals von Sänger Simo Lagnawi in Szene gesetzt wird. Sein fünftes Album „El Hal“ kontrastiert Gnawa mit Trip-Hop, Dub-Schwaden und jazzig-funkigen Untertönen. Das Resultat? Trance², mindestens. (Kristoffer Cornils)


Die P: „3,14“ (PIAS/365xx/Groove Attack)

Street-Rap Bonn ist nicht mehr Hauptstadt, aber dafür geht‘s dort heftiger ab als im durchgentrifizierten Berlin. Jedenfalls auf dem Debütalbum von Die P. Die Bonner Rapperin zeichnet das Bild einer Stadt jenseits der verbliebenen Bundesministerien, das geprägt ist von Armut, Drogen und Kleinkriminalität. Die P beschreibt dieses harte Pflaster ohne jede Sozialromantik in klaren, effektiven Reimen, die beweisen, dass Street-Rap intelligenter sein kann als sein Ruf. (Thomas Winkler)


William Doyle: „Great Spans Of Muddy Time“ (Tough Love/Cargo)

Pop-Experiment Die Krise als Chance zu betrachten – das ist auch so ein gutgemeinter Imperativ, der sich wie zynisch-blanker Hohn anfühlen kann. Bei kleineren Krisen aber geht’s mitunter: William Doyle hatte seine Festplatte geschrottet – die Arbeiten für sein Album hatte er nur in Low-Quality auf Kassette (!) gespeichert. Also hat er damit weiter gearbeitet. Klingt so als hätte ein Krokodil Schluckauf und hätten Synth-Harfen Fieberträume: ziemlich toll. (Stefan Hochgesand)


Sicker Man: „Dialog“ (Blankrecords/Broken Silence)

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Improvisation Neben Livestream-Drone-Ses­sions im Lockdown trat der experimentierfreudige Berliner Musiker im Studio mit wechselnden Kreativpartner*innen in den improvisierten Austausch. Dabei entstand jede Menge Uneasy-Listening – von bratzigen Noise-Wänden mit Schneider TM bis hin zu Flippermaschinen-Electronica mit Joao Orecchia. Doch kreiert Sicker Man mit seinem Cello auch Klangflächen von schwermütiger Schönheit und hypnotischem Groove. (Nina Töllner)


Mehr Musik

Das lala Frühlingswetter lässt zu wünschen übrig – Zeit fürs Lalaland, die neueste Musik: Nubiyan Twist und Perfume Genius tanzen, Paper Kites feiern. Brisa Roché fährt in den Canyon, Kings Of Leon kuschelrocken.

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