Dass „All I Want For Christmas“ der beste Weihnachtssong ist, der jemals geschrieben wurde (neben „River“ von Joni Mitchell), wissen wir. Und auch, dass Mariah Carey ihn gern neu verpackt – in diesem Jahr in Form eines Apple-TV-Weihnachts-Specials. Dazu gibt es natürlich einen Soundtrack – mit Überraschung.
Überraschend auch Taylor Swift. Schon das zweite Album innerhalb weniger Monate ist raus, wieder von Jetzt auf Gleich ins Internet geworfen. Und abermals kein Mainstream-Charts-Pop, sondern wieder indie-ästhetisch. Kamasi Washington wiederum, der beliebteste Saxofonist des Planeten, hat den Soundtrack zur Netflix-Doku über Michelle Obama gemacht. The Kills haben ihren Resteramschkeller geplündert. Sun-El Musician kontert mit seinem House-Afro-Funk allen Klischees von so genannter „Weltmusik“.
Bei diesem Depri-Wetter zurzeit macht sich Portishead gut, von denen gibt’s zwar nichts Neues, aber von einer Art Psych-Rap-Seitenprojekt namens Quakers. Und dann haben wir noch was für euch ausgegraben, was 40 Jahre alt ist, aber ein Revival allemal verdient.
Mariah Carey: „Mariah Carey’s Magical Christmas Special“ (Sony Legacy)
Weihnachtsmusik Mariah Carey ist die Queen of Christmas, das weibliche Pendant zu Santa Claus, was symbolische, heftig amerikanische Figuren zum Fest betrifft. Für Apple TV hat sie nun ein extrem überzuckertes, aber uneingeschränkt herzerwärmendes Weihnachts-Special gedreht – und den passenden Soundtrack nun auch allen anderen Streaming-Diensten überlassen.
Den Spirit of Christmas kocht die chronisch unterschätzte Carey (schreibt fast alles selbst, dank ihres schwarzen Vaters mit Rhythm und Blues gesegnet) auf 33 knackige Live-Minuten ein, lässt zu „Oh Santa“ überraschend Ariana Grande und die fantastische Jennifer Hudson mit ans Mikrofon. Ansonsten war alles außer „Sleigh Ride“ schon auf ihren Weihnachts-Studioalben, ist hier aber besonders auf den Punkt gebracht.
Absoluter Höhepunkt aber – neben der durchgängigen Gesangsdarbietung Careys – der Rap von Snoop Dogg auf „Here Comes Santa Claus“. Wie er zur funky Neuinterpretation im Special entspannt wie nichts im Weihnachtsmann-Kostüm umherdölmert, rechtfertigt allein den Abschluss eines Apple-TV-Abos, aber auch ohne Fernsehbild dazu ein moderner Klassiker. Ho ho ho. (Sebastian Scherer)
The Avalanches: „We Will Always Love You“ (EMI/Universal)
Post-Triphop-Chill-Noir-Disco Zwischen ihrem mit allerlei Hochfrequenzen experimentierenden Milleniumsdebüt „Since I Left You“(2000) und dem Nachfolger „Wildflower“ (2016) lagen ganze 16 Jahre. Schneller war das australische Trio mit seinem dritten, dank 25 Tracks, im Wortsinne Longplayer. Umwerfend ist nicht nur der schiere Umfang, sondern auch das Aufgebot an Gastsängern, das von Tricky über Neneh Cherry bis zu Sananda Maitreya (formerly known as Terence Trent D’Arby) reicht, was „We Will Always Love You“ zu der songorientiertesten Platte der Trilogie macht. Und das, obwohl gleich das titelgebende Stück klarstellt, dass The Avalanches auch diesmal auf den samplebasierten Ansatz der beiden Vorgängeralben setzen.
Der pophistorisch Beschlagene hat hier seine helle Freude daran, Smokey Robinsons „I’ll Take You Any Way That You Come“ rauszuhören, über dem ein engelshafter Knabenchor ausgeschüttet wird. Es ist ein einziges ätherisches Wabern, im romantischen Sinne gespenstisch.
Der „Divine Chord“, von dem wir glaubten, Leonard Cohen habe ihn offenbart, verwurstet munter Burt Bacharach, „Gold Sky“ die Pat Metheny Group, und doch geht es hier nicht um den trunken und taumeln machenden Rausch sinnlicher Überforderung, sondern um seine Transzendenz in die spirituelle Erhebung, genauer: das Ausloten der „vibrational relationship between light, sound and spirit“, die vor allem irgendwo im Weltall möglich zu sein scheint.
Denn von der Vorab-Single „Interstellar Love“, einer Art intergalaktischem Discostampfer mit allerlei Modulationsradverstimmungen, den allein Retro-Souler Leon Bridges zu erden versteht, bis hin zum Closer „Weightless“ samt dem 1974 mit den Voyager Golden Records ins All geschossenen Menschheitsgruß erzählt die Platte eine einzige Spaceodyssee, die mit Glück in ganz irdischer Erlösung gipfelt. (Victoriah Szirmai)
Kamasi Washington: „Becoming“ (Young Turks/Beggars)
Jazz Kamasi Washington ist einer der relevantesten zeitgenössischen Jazzkünstler. Logisch, dass er die Michelle-Obama-Dokumentation „Becoming“ vertonen würde – Gigant*innen arbeiten zusammen. Aber man muss den Film nicht mal gesehen haben, um sich der Schönheit des Soundtracks hinzugeben: Leichtfüßig beschwingt treibt es uns von Track zu Track; alles ist wie von einem goldenen Schein umgeben. Kamasi zitiert die alten Bigband-Zeiten, ohne altbacken zu klingen. (Aida Baghernejad)
Taylor Swift: „evermore“ (Universal/Taylor Swift)
Keine vier Monate ist es her, dass Taylor Swift mal eben ohne große Vorwarnung das wohl beste Album ihrer Karriere in den Ring warf: „folklore“ überraschte als reduzierte Songwriter-Indie-Pop-Platte. Weil es mit den kreativen Partnern Aaron Dessner, Jack Antonoff, WB und Justin Vernon so gut lief, schrieb und komponierte sie einfach weiter – und legt nun „evermore“ nach.
15 neue Songs im Flanellhemden-Kosmos, wieder mit Bon Iver als Duettpartner, aber auch The National und HAIM – letztere Verstärkung im finsteren „no body, no crime“, einem Song über die Entsorgung eines betrügerischen Ehemanns: „Ich hab genug Häuser geputzt, um dieses Szenario zu bereinigen.“ Latente Country-Anleihen, ein wenig Elektro, großes Gefühlschaos in kleinen Songs. Seitdem Swift sich entschied, aus anderen Perspektiven als der eigenen zu schreiben, hat sie offenbar ein neues Feuer entfacht: Die Krisen anderer Leute taugen für großes Songwriting.
Eine wunderbare Erweiterung des „folklore“-Kosmos‘. Nicht ganz so prägnant, aber keineswegs schlechter. Wir freuen uns dann auf die Frühlingsplatte im März. (Sebastian Scherer)
The Kills: „Little Bastards“ (Domino/Goodtogo)
Rock The Kills waren schon immer eine Band, die am besten war, wenn sie ihren Sound unpoliert beließ, räudig und schäbig. Keine Überraschung also, dass diese Compilation aus B-Seiten, Demos, Raritäten, vergessenen Aufnahmen und sonstigem Studio-Abfall den verlorenen Geist des englisch-amerikanischen Duos wiederbelebt. Noch einmal klappert die billige Drum-Machine, noch einmal rauen die ungehobelten Bluesriffs die zuckersüßen Melodien auf. War schon geil. (Thomas Winkler)
Kacy & Clayton and Marlon Williams: „Plastic Bouqet“ (New West/PIAS/Rough Trade)
Folk Gipfeltreffen: Das kanadische Duo Kacy & Clayton und Neuseelands Singer/Songwriter Marlon Willams mögen keine Weltstars sein, aber beide sind etablierte Größen, wenn es um alternativen Folk geht. Entstanden sind in der Zusammenarbeit ein paar großartige Songs zwischen Alt-Country und Freak-Folk mit berückenden Harmonien („Light of Love“, „Your Mind‘s Walking Out“), aber leider ging auf der Interkontinentalstrecke Williams hintergründiger Humor verloren. (Thomas Winkler)
Sun-El Musician: „To The World & Beyond“ (El-World)
House-Afro-Funk Wie klingt die Zukunft? Nostalgisch und futuristisch zugleich, nach babylonischem Sprachwirrwar – und nach Hoffnung. Sun-El Musician ist einer der profiliertesten Produzenten Südafrikas. Sein zweites Album nun ist mit 31 Tracks eine Werkschau, die sich zwischen Dance, Pop, R’n’B und Jazz einordnet. Mal erinnert es an die frühen Digitalism, mal treffen Afrobeats auf schönsten Pop. Ein Album für alle, die nichts mit „World Music“-Klischees anfangen können. (Aida Baghernejad)
M. Ward: „Think Of Spring“ (Anti-/Indigo)
Verbeugung Clever: M. Ward will sich verbeugen vor Billie Holiday. Aber wie erweist man der womöglich größten Stimme des Jazz seine Referenz, ohne sich in Konkurrenz zu begeben? Der Songwriter nahm 11 der 12 Songs vom Klassiker „Lady in Satin“ (1958) neu auf, aber schrammelt in spartanischen Arrangements auf der Gitarre und spricht die Texte eher, als dass er sie singt. Das Ergebnis hat dermaßen viel Abstand zum Original, dass die Größe Holidays umso unüberhörbarer wird. (Thomas Winkler)
Juicy J: „The Hustle Continues“ (Trippy Music/eOne)
Oscargewinner-Hiphop Der (T)Rap-Onkel aus Memphis ist zurück: The Hustle Continues von Juicy J wirft zurück in die frühen 2000er. Seine Gruppe Three 6 Mafia auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, Oscarprämierung inklusive. Das bewährte Rezept aus hektischen drumrolls, Hi-Hat-Stakkato und wummernden Bässen trifft auf Horrorfilm-Pianos, trifft auf entschleunigten Rapstil, trifft auf seinen patentierten Ausruf „Shutthafuckup!“. Songtexte und Songtitel erzählen die Storys von Sex, Drugs & Money, auch die Analogien üben sich in Nostalgie, referenzieren Kifferfilme der Jahrtausendwende.
Der Einfluss Juicy Js auf Südstaaten-Rap lässt sich nicht verhehlen, auch das aktuelle Album klingt wie die Blaupause für das, was heute als Trap verkauft wird. Es klingt durchweg solide, wenn der Hustle weitergehen muss, aber eben auch etwas zu bekannt. Eine leichte Staubschicht aber hat er angesetzt. (Ben-Robin König)
Calexico: „Seasonal Shift“ (City Slang/Rough Trade)
Tex-Mex-Xmas Wenn schon eine Weihnachtsplatte, dann doch von Calexico, den Königen der coolen Uncoolness. Einerseits kleiden die Alt-Americana-Helden eine Reihe von Frohes-Fest-Klassikern wie Tom Pettys „Christmas All Over Again“ oder John Lennons „Happy Xmas (War is Over)“ in ihr patentiertes Gewand, aber auch zu den Eigenkompositionen jubilieren natürlich die Mariachi-Trompeten. Wenn diese Stille Nacht noch stiller wird, kann man sie hiermit gut aufpeppen. (Thomas Winkler)
Young Marble Giants: „Colossal Youth 40th Anniversary Edition“(Domino/Goodtogo)
Experimentelle Lounge 1980 verabschiedete sich der Punkrock in Richtung Hardcore, jedoch nicht, ohne zuvor den Weg geebnet zu haben für ungewöhnliche Neutöner vieler Art. Dazu gehörte auch das walisische Trio Young Marble Giants mit seinem Album „Colossal Youth“: Minimalmelodien, komponiert und vorgetragen an Gitarre und Keyboards von Stuart Moxham, unterstützt von einer simplen Rhythmusbox, Moxhams Bruder Philip am Bass und seiner Freundin Alison Statton mit ihrer klaren und völlig unemotionalen Stimme.
Experimentelle Loungemusik für die Postpunk-Ära, im Effekt (nicht von der Musik her) noch am ehesten vergleichbar mit den Aufnahmen von Astrud Gilberto, der bekanntesten weiblichen Stimme des Bossa Nova in den Sixties. „Colossal Youth“ blieb das einzige Album der Young Marble Giants, das jetzt von Domino zum 40. Jubiläum gemeinsam mit dem Rest ihrer Aufnahmen und der DVD eines Live-Auftritts wiederveröffentlicht wird. Klänge von gestern als Musik für heute? Unbedingt: „Colossal Youth“ ist ein zeitloser Klassiker. (Lars Penning)
Mehr neue Musik: Wir haben mit dem Sänger der Beatsteaks über deren neue Cover-EP „In The Presence Of“ gesprochen – und mit dem gefeierten Produzenten-Jungspund Max Rieger alias All Diese Gewalt. Außerdem mehr Platten im Test: Haiyti ist genervt, Nils Frahm perlt, Nick Cave meditiert. Den Soundtrack zum Fest haben wir auch: Die besten Weihnachtslieder aus Berlin, von Element of Crime bis Sido.