Als Musik-Lover kann man ja in zwei Fallen tappen. Erstens: Man trauert nur noch seinen alten Held*innen hinterher und verschließt den Blick fürs Neue. Garantiert entgeht einem dabei viel. Oder zweitens: Man hetzt nur noch den neuen Releases hinterher und vergisst dabei die Schätze von früher. Wir haben mit diesen Alben der Woche die perfekte Schatzkarte für euch, um beiden Fallen zu entgehen: Ja, wir huldigen Prince und Lou Reed. Weil sie es einfach verdient haben, traurigerweise nicht mehr unter uns weilen und wir ihre Musik lieben.
Aber wir haben auch brandneue Entdeckungen für euch in Berlin gemacht, vom Charlottenburger Rapper Nali, der Joints aus BVG-Tickets baut, bis zum Indie-Pop-Quartett namens Bilbao, das uns vom letzten Spanien-Urlaub träumen lässt. Hier sind unsere Alben der Woche.
Róisín Murphy: „Róisín Machine“ (Skint / Warner)
Disco Ja, es waren goldene Zeiten. Die Danceteria, das Studio 54, Paradise Garage. Donna Summer, The Chic, Gloria Gaynor. Die Discothèque der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre war ein großes Versprechen, dessen Glamour bis heute nachhallt. Oder, wie Róisín Murphy singt: „We groove together/ We slept together/ We got together“.
Die Geschichte des Dancefloors als utopischer Ort, an dem alle Menschen gleichberechtigt und ohne Vorurteile zusammenkommen, hat eine lange Geschichte, die nicht erst in den New Yorker Discos der Siebziger beginnt, aber eben auch nicht mit den Raves der Achtziger oder der Ecstasy-getriebenen Techno-Kultur der Neunziger endet. Dieses Versprechen, dass der feiernde Mensch sich jede Nacht neu erfinden kann oder sich doch wenigstens frisch verlieben kann, bleibt ewig jung und wird als solches von der ehemaligen Moloko-Sängerin mit ihrem fünften Solo-Album „Róisín Machine“ über knackigen House-Beats noch einmal heraufbeschworen. Oder, wie es die Disco-Diva der Stunde in ihrem so retrospektiven wie eingängig puckernden „Murphy‘s Law“ verkündet: „It‘s Murphy’s law, I’m gonna meet you tonight.“
Gleichzeitig ist „Róisín Machine“ aber auch ein Abgesang auf diese Utopie: In „Kingdom of Ends“ kommt der Song ins Stocken, während der Beat gnadenlos weiter pumpt, als hätte sich die endlose Party unmerklich in einen nicht enden wollenden Arbeitstag verwandelt. Dazu singt Murphy, die alltägliche Monotonie imitierend: „Keep going in going on/ Keep going down can’t turn around/ Keep waking up at 6 am/ Get it up doing it all again.“
„Róisín Machine“ ist ein Album, das einerseits kaum mehr aus der Zeit gefallen klingen könnte – weil Corona genau diese Feierkultur gerade verhindert. Und andererseits nie so nötig war – weil wegen Corona erst so richtig deutlich wird, wie eminent wichtig diese Kultur des Zusammenkommens für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist. Oder, wie es die große Disco-Philosophin Róisín Murphy formuliert: „Keep movin‘, keep it on, keep it together!“ (Thomas Winkler)
Dawes: „Good Luck With Whatever“ (Rounder Records / Universal)
Westcoast Das siebte Album, das erste bei einem Major-Label, und so muss Bandgründer und Sänger Taylor Goldsmith jetzt feststellen: „Das Ende der Kindheit ist da.“ Kann man ja wohl auch erwarten von einem 35-Jährigen! Das Sympathische daran: Goldsmith und seine Band klingen überhaupt nicht larmoyant, sondern weiterhin erdig und authentisch, haben sich von ihren Vorbildern aus dem Laurel Canyon (Joni Mitchell, Jackson Browne, Crosby, Stills, Nash & Young) nie distanziert. Und so stehen im Mittelpunkt der neuen Platte zwei gefühlvolle, aber überhaupt nicht kitschige Balladen: „Between The Zero“ und „St Augustine“. Keine Sorge: Vorher und nachher lassen Dawes es ordentlich krachen. Wenn sie jetzt noch den beißenden Spott eines Warren Zevon entwickeln könnten – das wär’s! (Lutz Göllner)
Groove Armada: „Edge Of The Horizon“ (BMG)
90s-Dance Wie zur Hölle konnte das passieren, dass eine Band, die mit Neneh Cherry und Róisín Murphy zusammengearbeitet hat, derart an Reputation eingebüßt hat? Haben all diese Musikkritiker*innen, die schlechte Wertungen geben, kein Herz für nächtlich-nostalgische Autoscooter-Trips unter Discokugeln, mit Zuckerwatte in der Nicht-Steuerhand? Kurzum: für die 90er? Zugegeben: Groove Armada klingen nicht so wertig wie die Pet Shop Boys, aber ihre Melodien funkeln dennoch magisch. (Stefan Hochgesand)
Marie Davidson & L’Œil Nu: „Renegade Breakdown“ (Ninja Tune)
Electro-Chanson Schon mehrmals kündigte Marie Davidson, frankokanadische Technoqueen, Elektromusikerin und Produzentin, an, sich vom Dancefloor zu verabschieden. Schließlich hieß ihr drittes Album auch „Adieux au Dancefloor“ (2016), darauf folgte „Working Class Woman“ (2018), eine Elegie auf den Burnout. Nun also „Renegade Breakdown“ – und diesmal scheint es ihr ernst zu sein mit dem Abschied vom Dancefloor. Denn entgegen des Eindrucks, den das erste Stück, „Renegade Breakdown“, hinterlässt, ist die treibende Techno-Bassline ein Ding der Vergangenheit. Nein, jetzt lässt sie ihre, das Klischee ist leider wahr, Chanson-eske Stimme im Vordergrund stehen, dazu Sounds von Wave bis Disco, zwischendrin klimpert auf Lead Girl ein Klavier in der Apokalypse, und dahinter geht die Welt unter. Das könnte alles schief gehen, aber im Gegenteil – Marie Davidson klang noch nie besser. (Aida Baghernejad)
The Reds, Pinks And Purples: „You Might Be Happy Someday“ (Tough Love / Cargo)
Depresso-Folk Manchmal ist ein Prä-Orgasmus ja schon so gut wie ein echter Orgasmus. Wie bei Glenn Donaldson alias The Reds, Pinks And Purples, der sein acht Tracks starkes Prä-Album vorlegt, bevor dann das richtige Debüt-Album 2021 folgen soll. In eingängig schwermütigen Melodien singt uns der Songwriter aus San Francisco über treibenden Gitarren an, unsere „so called friends, they don’t care at all“, wenn wir ins Krankenhaus kommen. Depresso-Hymnen in Zeiten der Corona. (Stefan Hochgesand)
Nali: „Mondwächter“ (Gold League / Sony)
Deutschrap Ob Exzesse im Volkspark, Rennen vor BVG-Kontrolleuren oder Joint-Filter-Bastelversuche aus alten Fahrkarten: Der Charlottenburger Rapper Nali, Jahrgang 1996, widmet sich auf seiner Debüt-EP „Mondwächter“ dem Aufwachsen in Berlin mit all seinen Eigenheiten. Seine Aufgabe erkennt er darin, „immer wieder diese eisigen Zeiten zu beschreiben“, wie es auf dem, vor jugendlichen Hochmut strotzendem, Opener „20 Jahre Jung“ heißt – was ihm mit seinen, oftmals aus einer beobachtenden Distanz geschriebenen, Texten, auch ausgezeichnet gelingt. Sozialkritik wird hier nicht mit der Brechstange vorgetragen, sondern ergibt sich aus, teils banalen, Zustandsbeschreibungen. Spannend wird die EP durch den oldschooligen BoomBap-Sound, den Nali durch vereinzelte Trap-Elemente auflockert und der sich wohltuend von dem der aktuellen Genrekollegen abhebt. Nebenbei gibt Nali auf „Volkspark“ schon mal das Motto für den Corona-Herbst vor: „Scheiß auf den Club, lass zum Volkspark“. Dort dürfte es in der kalten Jahreszeit zwar ein wenig kühl werden, aber immerhin gibt es hier „frische Luft und Suff“. (Benedikt Kendler)
Bilbao: „Isola“ (Radicalis)
Indie-Pop Hat jemand gesagt, Indie-Pop sei tot? Hätte man ja meinen können, nachem sich allerlei Bands wahlweise aufgelöst haben oder nur noch Quark fürs Stadion machen. Und dann kommt diese Band! Vier junge Männer aus Berlin und aus Hamburg (!) – das mutet ja schon an wie Bowie und Beatles zusammen. Klanglich schielt das Synthie-verliebte Quartett aber eher Richtung Phoenix und Wild Beasts, auch durch den hochstimmigen Mannesgesang, und baut damit kleine Pop-Hymnen, die so klingen als hätten die Editors ausnahmsweise mal ganz gute Laune – aber nicht auf die banale Tour, sondern sonnentrunken, durchaus melancholisch. Super Soundtrack für das Ende eines Sommers. Spaß an Jazz und Funk blinzeln durch – auch mal mit überraschenden Akkord-Wechseln. Man kann nur hoffen, dass Bilbao nicht so schnell Erfolg haben, dass sie ins Stadion abhauen. Diese vier Männer will man im Club treffen. (Stefan Hochgesand)
Prince: „Sign O’ The Times (Super Deluxe Edition)“ (The Prince Estate/Warner)
Funk Das Doppelalbum „Sign O’ The Times” von 1987 gilt als das Meisterwerk des erratischen Multiinstrumentalisten Prince. Es ist jetzt in einer remasterten Version neu erschienen. Nie zuvor war Prince so produktiv und stilistisch breit aufgestellt wie in dieser Phase. Seine Band The Revolution war passé, sein Interesse für Jazz-Funk erblühte, pro Tag produzierte er Songs, die meisten verschwanden im Tresor. „Sign O’ The Times” war eigentlich als Triple-Album unter den Namen „Crystal Ball” geplant. Auf Druck der Plattenfirma reduzierte Prince die Anzahl der Stücke und stellte den Titelsong an den Anfang.
Die Super-Deluxe-Version nun zeigt in einer überwältigenden Opulenz die musikalischen Ambitionen, die das Genie des Musikers unterstreichen. Erstmals sind auch die Songs zu hören, die Prince noch mit The Revolution aufnahm und die er dann umarbeitete oder archivierte. Auf insgesamt drei CDs finden sich alte Versionen bekannter Titel, die teilweise erstaunliche Überarbeitungen erfuhren. Oft sind auch musikalische Skizzen zu hören, die auf spätere Platten wie das „Black Album” oder „Lovesexy” hinweisen. Mit „Teacher, Teacher”, „Cosmic Day” oder „Big Tall Wall” verwarf Prince mögliche Hits – sein Output kannte kein Korrektiv.
In einem 120 Seiten starken Buch geben Plattenfirmen-Manager, Studio-Techniker oder ehemalige Band-Mitglieder tiefe Einblicke, wie Prince arbeitete. Selbst in den archivieren Stücken ist sein Drang nach musikalischer Perfektion beeindruckend. Zwei Live-Konzerte runden die Box ab. Der Gig vom Juni 1987 in Utrecht innerhalb der „Sign O’ The Times”-Tour ist als Audio-Mitschnitt zu hören. Den Jahreswechsel feiert er in seinem neu eröffneten Studiokomplex Paisley-Park vor geladenen Gästen – die DVD zeigt Prince hautnah inmitten seiner Entourage. Näher kann man dem Meister nicht kommen. (Dirk Teuber)
Lou Reed: „New York (Deluxe Edition)“ (Rhino / Warner)
Altmännermusik Von Lou Reed, so böse Zungen, gibt es nur zwei Songs: einen schnellen und einen langsamen. Da ist viel Wahres dran, reduziert den alten Brummelkopf aber sehr aufs Äußerliche. Eigentlich unterscheidet sich Reeds Werk in aufgeblasenen, Feuilleton-kompatiblen Quatsch und arschcoolen Krach. „New York“ aus dem Jahr 1989 zählt zu Letzterem. Das ist Lou Reeds Version von Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“, doch wo Wolfe immer zynische Distanz wahrt, kocht Reed vor sich hin: Obdachlosigkeit, Armut, Rassismus, Gewalt und Korruption, Lou Reed ist empört.
Und verschont dabei auch nicht – schließlich war er nie ein Ideologe – die Leute, die eigentlich politisch an seiner Seite stehen. „Good Evening, Mr. Waldheim“ ist ein Angriff auf den alten SS-Mann Kurt Waldheim, aber auch auf den Bürgerrechtler Jesse Jackson und seine Verbündeten. „Dirty Blvd.“ zieht eine bittere Bilanz nach acht Jahren Herrschaft der herzlosen Reagonomics. Die Traumstadt New York City hat sich in einem unendlichen Alptraum verwandelt. Reeds Band (Gitarre, Bass, Schlagzeug) verdichtet den Sound der Straßen und macht göttlichen Krach. Und am Ende steht das Geheimnis der Groschenhefte, die mehr Wahrheiten aussprechen als jede Religion, jede politische Botschaft.
Die luxuriöse Box enthält ein großartiges Live-Konzert als CD und DVD und eine CD mit Arbeitsversionen, B-Seiten und Mixen. Unverzichtbar. (Lutz Göllner)
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Mehr zum Thema: Róisín Murphy, Groove Armada, Prince und Marie Davidson machen Bock zum Tanzen – vielleicht sogar gut, dass wir zurzeit zuhause isoliert tanzen, denn diese 12 Typen nerven einfach auf jedem Dancefloor. Und wenn ihr dann schön Wallung seid, gönnt euch doch noch ein bisschen Aufregung über Touris. In Wirklichkeit haben wir natürlich gar nicht so viel gegen Tanzböden und gegen Touris. Wir kotzen nur manchmal ganz gerne ab – weil wir Berliner*innen sind.
Entspannter zu ging es letzte Woche bei unseren Tonträgern: Sufjan Stevens hat Weihauch geschnüffelt und die Fleet Foxes haben uns routiniert das Herz gebrochen. Davor hat uns Alicia Keys enttäuscht, aber Fenne Lily fetzt – nach wie vor.