Wer bringt das Lebensgefühl der Generation Z (grob gesagt Geburtenjahrgang 1997 bis 2012) wohl besser auf den Punkt? Beabadoobee aus London, die mit ihren Fake-Blumen dramatisch zum Mitgröhlen einlädt? Oder „unsere“ Berliner Boys Kasimir1441 und Chapo102, die sich für keine Bitch-Line zu schade sind, aber damit (so meint zumindest unser Autor) über Bande sogar Sexismus-Kritik betreiben?
Und wenn’s schon langsam sophisticated wird: Es gibt nicht nur Meta-Straßenrap, sondern auch Meta-Country – von den Holy Motors. Für alle, denen jetzt schon schwindelig wird, haben wir eine sichere Bank beziehungsweise sichere Melancholie-Badewanne: Woodkid. Und einen sicheren Kuschelkamin: Matt Berninger. Und irgendwas war auch mit Morgan Freeman.
Beabadoobee: „Fake It Flowers“ (Dirty Hit / Caroline / Universal)
Indie Mit 20 Jahren ist Beabadoobee alias Bea Kristi zu jung, um Nirvana oder gar die frühen Pixies noch leibhaftig erlebt zu haben. Aber die Londoner Musikerin weiß vermutlich, auf wen sie sich bezieht, denn auf ihrem Debütalbum schwillt die Strophe meist dramatisch an, bevor sie in einem kräftigen Mitgröhl-Refrain mündet. Fehlt die plakative Laut-leise-Akrobatik, ist leichter zu entdecken, wie Beabadoobee die leicht depressive Stimmungslage der Generation Z in griffige Songs fasst. (Thomas Winkler)
Matt Berninger: „Serpentine Prison“, (Book’s Records / Caroline / Universal)
Kamin-Blues Ihr habt keine Decke aus Samt und auch keinen Kamin zuhause? Macht nichts. The-National-Sänger Matt Berninger, der mit dem butterweichen Bariton, bringt pünktlich zum Spätherbst sein erstes Soloalbum heraus. Augen zu, „Serpentine Prison“ auf die Kopfhörer, schon faltet sie sich auf, die Kuscheldecke, schon kriecht die Wärme in die Glieder. Aber da ist nicht nur sanftes Akustik-Zupfen und orchestrales Schwelgen unter Berningers Stimme. Es klingt auch ganz viel zum Fußwippen anstiftender Memphis-Blues in der von Booker T. Jones produzierten Platte. Viele Gäste sind zu hören, unter anderem wieder Gail Ann Dorsey, die schon beim The-National-Album „I am easy to find“ dabei war. „Loved so Little“ klingt wie eine Hommage an Nick Cave, „Take Me Out Of Town“ wie eine klassische The-National-Ballade. Viel Stoff für eine lange Einkehr vor dem imaginierten Kamin.
Und sind das nicht schöne Zeiten, in denen Frauen über „Wet Ass Pussy“ rappen und Männer so herzreißend über unerwiderte Liebe wehklagen? Wenige beherrschen das so stilvoll wie Matt Berninger. Immer cool im Sicherheitsabstand um Pathos oder Kitsch herumschlendern, und dabei doch alles offenlegen: „Give me one more second to dry my eyes.“ Aber bitte doch. Keine Eile. (Lydia Brakebusch)
Woodkid: „S16“ (Island / Universal)
Bombast-Pop Nicht, dass Yoann Lemoine faul gewesen wäre. Sein gefeiertes Debüt als Woodkid, „The Golden Age“, ist zwar schon sieben Jahre alt, aber der Franzose war mit Ballett- und Filmmusiken, Videos und Live-Regie für andere beschäftigt. Für sein zweites Album „S16“ ist Downsizing angesagt: Die Songs sind immer noch episch angelegt, baden immer noch tief in Melancholie, aber die Arrangements sind transparenter und reduzierter. Der Bombast liegt diesmal weniger im Sound als viel mehr in der Emotion. (Thomas Winkler)
21Savage & Metro Boomin: „Savage Mode II“ (Sony)
US-Straßenrap Morgan Freeman auf einem Rap-Album. Eine erstmal befremdlich anmutende Vorstellung, die auf „Savage Mode II“ von US-Rapper 21Savage Realität wird. Allerdings beschränkt sich Freemans Anteil auf episch anmutenden In- und Outros, in denen er zum Beispiel den Unterschied zwischen Ratten und Verrätern erläutert. Oha. Das Album ist die Fortsetzung der ebenfalls mit Metro Boomin produzierten EP „Savage Mode“, die dem im Kindesalter aus England ausgewanderten Rapper zu Ruhm verhalf, nachdem seine Jugend in Atlanta von Gewalt und Verbrechen geprägt war. Schon in der siebten Klasse brachte er eine Schusswaffe in die Schule mit, später schloss er sich der Straßengang „Bloods“ an, bevor er bei einem Raub an seinem 21. Geburtstag sechsmal angeschossen wurde.
21Savage erzählt zwar auch viele aus dieser Lebensphase auf dem Album, unter anderem auf der nostalgischen 50-Cent-Hommage „Many Men“, setzt aber auch vereinzelt andere thematische Akzente. In einem gemeinsamen Song mit Drake geht es um lockeren Sex („Mr. Right Now“), an anderer Stelle um romantische Desillusion („RIP Luv“). Dass es nicht tiefgehender wird, ist halb so schlimm, lebt „Savage Mode II“ doch von den atmosphärischen Beats, über die 21Savage mit ruhiger Stimme und viel musikalischem Gespür gleitet. Und von Morgan Freeman natürlich. (Benedikt Kendler)
Holy Motors: „Horse“ (Wharf Cat / Cargo)
Meta-Country Der Mond höchstpersönlich spielt auf dem zweiten Album der Holy Motors nicht mehr die herausragende Rolle wie auf ihrem Debüt. Aber dunkel ist es auch zwei Jahre später auf „Horse“: Die Band aus Tallin um Sängerin Ellian Tulve reitet immer noch als „Midnight Cowboy“ auf Americana-Pfaden durch eine „Endless Night“ zum Gottesdienst in der „Country Church“. So viel Hall auf den Gitarren und quer durchs Bild torkelnde Büsche waren selten, aber die schlimmsten Klischees bricht der knochentrockene Vortrag. (Thomas Winkler)
Kasimir1441 x Chapo102: „Rotzlöffel“ (Bis Es Klappt Records)
Deutschrap Da haben sich aber zwei gefunden! Auf ihrem neuen Kollabomixtape „Rotzlöffel“ präsentieren sich Kasimir1441 und Chapo102 von ihrer jeweils besten Seite – musikalisch gesehen. Während der Steglitzer Kasimir1441, der sich nun schon seit einiger Zeit durch Berlin schreit, sein kräftiges Stimmorgan einbringt, sorgt Chapo102 mit seinem Sinn für melodische Hooks für jene Abwechslung, die Kasimir1441 auf seiner im Frühjahr veröffentlichen „Kickdown EP“ noch gefehlt hat. Geschmacklich aber sind die Texte durchaus hart an der Grenze, Gewaltfantasien, Machosprüche und stumpfer Sexismus sind hier nicht nur Beiwerk, sondern Programm. Verwunderlich ist das keineswegs, immerhin ist Chapos ostfriesische Rapcrew, die „102 Boys“, erst durch ihre „Asozial Allstars“-Albumtrilogie einem breiterem Publikum ein Begriff geworden.
Wer die Musik aber, davon abgeschreckt, voreilig abdreht, verpasst eine ganze Menge – und verkennt, dass die Texte keinen Paradieszustand darstellen sollen, sondern moralische Unzulänglichkeit, Drogensucht und Narzissmus selbstkritisch thematisieren. Besonders deutlich wird das in den beiden Songs „Wach“ und „Woanders“, die aufgrund der ihr innewohnenden Ehrlichkeit mit die stärksten des Mixtapes sind. Hier macht Kasimir1441 seine Ankündigung wahr, etwas „liebevollere“ Musik zu fabrizieren und „mal andere Stimmen“ zu probieren, durch deren gelungene Kombination er die alte Monotonie überwindet und beweist, dass er weit mehr als ein deutscher Abklatsch des US-Rappers und verurteilten Straftäters 6ix9ine ist. „Rotzlöffel“ bildet die Lust am stumpfen Exzess und den mit ihm verbundenen Schattenseiten durch den Einsatz von dem Deutschrap bisher fremden Stilmitteln auf faszinierende Weise ab. (Benedikt Kendler)
Mehr zum Thema: Letztes Woche hat Mary Lattimore uns harfiert und Travis haben gerock’n’rollt. Davor ging es in die Diskothek mit Róisín Murphy und mit Prince.