Musikszene

Berliner Musikerin Mine: Ihr Album „Hinüber“ ist der Kick gegen Weltschmerz

Spätestens seit „Klebstoff“ ist klar: Die Berlinerin Mine zählt zu den besten Musiker:innen des Landes. Auf ihrem neuen Album „Hinüber“ steht sie hemmungslos zu ihren Gefühlen, aber verhandelt auch die dringenden Probleme unserer Zeit. Wie macht diese Frau all dies auf einmal?

„Ich sag immer: Schubladisier’ mich da ein, wo du willst“, sagt Mine, „ich will mich nicht festlegen.“ Das neue Album der Berlinerin heißt „Hinüber“. Foto: Simon Hegenberg

Mine mit „Mein Herz“: Auftritt bei Klaas Heufer-Umlauf

Vor ein paar Wochen war Mine im Fernsehen, um ihr Lied „Mein Herz“ zu singen. Der Moderator der Sendung, ein gewisser Klaas Heufer-Umlauf, kündigte sie an mit den Worten: „Sie schreibt ihre eigenen Texte selber, sie produziert ihre Musik selber. Was sie da macht, das ist Lyrik, das ist schön.“ Als Heufer-Umlauf das sagte, saß daneben ein gewisser Jan Delay ziemlich breitbeinig in einem braunen Ledersessel.

Was man sagen muss: Heufer-Umlauf hat ja recht. Jasmin Stocker alias Mine schreibt ihre Songs, komponiert, arrangiert und produziert, ja sie schneidet sogar ihre Videoclips selber. Und gerade „Mein Herz“ ist wirklich sehr schön. Aber: Dass jemand im Fernsehen meint, noch ausdrücklich erwähnen zu müssen, dass eine Musikerin die eigenen Songs schreibt und produziert, sagt mehr über den jemand und über das Fernsehen und, ja, auch über dieses Land, als es über Mine sagt.

Wie gut Mine ist, wissen wir seit dem Album „Klebstoff“

Denn dass die Wahlberlinerin zu den besten Songschreiber:innen, Sänger:innen, Musiker:innen und Produzent:innen des Landes gehört, das steht schon länger fest, allerspätestens seit „Klebstoff“, ihrem Album aus dem Jahre 2019. Nun, zwei Jahre später, bringt sie den Nachfolger „Hinüber“ heraus. Ein Album, das klingt wie ein musikalisches Sammelsurium, aber doch wie aus einem Guss. Mit Songs, die hemmungslos zu ihren Gefühlen stehen, aber auch die dringenden Probleme dieser Zeit verhandeln. Mit Texten, die so lyrisch wie konkret sind, so kryptisch wie greifbar.

Es beginnt mit dem Titelsong, einer Kooperation mit Sophie Hunger, in der ein mächtiges Streicher-Arrangement eine dystopische Stimmung malt, während die beiden Stimmen sich ein paar grundsätzliche Gedanken machen über das Hier und Heute und den Zustand dieser Welt und die Verantwortung des Menschen. In drei Minuten und sechs Sekunden geht es von der Bestandsaufnahme („Das Meer ist aus Plastik, der Hunger ist groß.“) zur ernüchternden Bilanz: „Ich bin der Mensch und bin ein Tier / In voller Scham, in voller Gier / Such nach dem Glück, das ich zerstör‘ / nichts davon hat mir gehört.“

Das muss man sich auch erstmal trauen, dem geneigten Zuhörer gleich zur Begrüßung vor den Latz zu knallen, dass er schuld ist am Untergang der Welt. Aber, sagt Mine beim Gespräch über Zoom: „Mit dem Bekanntheitsgrad kommt eine Verantwortung. Ich merke, meine Verantwortung wächst mit meiner Zuhörerschaft. Und diese Verantwortung will ich auch annehmen. Wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewegen, dann ist das ein großes Geschenk.“

Verteilungsgerechtigkeit, Sinnfragen – und Eiscreme

Die Folge dieser Verantwortung ist, dass sich Mines Texte auf „Hinüber“ souverän zwischen Bauchnabel und politischem Tagesgeschäft, zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und Hedonismus bewegen – ganz so, wie das halt auch im echten Leben ist. So kann es einen Song wie die erste Single „Unfall“ geben, in der die Verteilungsungerechtigkeit in der Welt hinterfragt wird. Aber eben auch ein Lied wie „Eiscreme“, in dem Speiseeis als Medizin und Kick gegen den Weltschmerz gefeiert wird. Und schließlich „Tier“, das gleich die ganz große Sinnfrage stellt: „Was will ich hier?“

Mine, das merkt man im Gespräch, scheut die ganz großen Aussagen, sie will sich nicht auf eine Rolle als Stimme einer Generation festlegen lassen. „Ich bin Musikerin, nicht Aktivistin“, sagt sie, „aber diese Themen bewegen mich. Und das findet dann auch Ausdruck in meinen Songs.“ Aber sie gibt auch zu, dass das Album, so musikalisch abwechslungsreich es ist, schon einen roten Faden hat: „Auf dem Album geht es um den Umgang mit der ganzen Welt und allen ihren Insassen, mit den Menschen und den Tieren, die auf ihr leben.“

Mine: Freitag Demo, Samstag Club

Das alles beschreibt Mine aus ihrer Sicht, also der einer 35-jährigen Großstadtbewohnerin, die am Freitag gegen den Klimawandel demonstriert, am Wochenende im Club unterwegs wäre, wenn nicht gerade Corona ist, und unter der Woche ihren Alltag zu bewältigen versucht, während sie noch die letzte gescheiterte Beziehung verarbeiten muss. All diese Aspekte finden sich in den Texten von „Hinüber“, und für jeden Tag dieser Woche gibt es auch musikalisch mindestens einen Song, der als Soundtrack dienen kann.

Dieser Zwischenzustand, dieser dauerhaft zum Scheitern verurteilte Versuch, ein richtiges Leben im Falschen zu leben, dem gibt Mine einen Ausdruck, ohne ihn ausdrücklich zu benennen. Er spiegelt sich in den Texten, und noch viel mehr in der Musik, die viel vom HipHop gelernt hat, so elektronisch wie akustisch ist, große Soul-Gesten wagt, nicht vorm Deutschpoeten-Betroffenheits-Pop zurückschreckt, aber auch das Kunstlied aufscheinen lässt im Gesang von Mines Stimme, die in einem Jazz-Studium in Mainz geschult wurde.

Mine hat sich durch Bettina Wegners Werk gewühlt

„Ich sag immer: Schubladisier’ mich da ein, wo du willst“, sagt Mine, „ich will mich nicht festlegen.“ Man kann hören, dass Mine an der Mannheimer Pop-Akademie studiert hat, so abgeklärt und souverän mit Pop-
Klischees hantiert sie. Aber eben auch, dass sie vor den alten deutschen Liedermachern „einen gehörigen Respekt hat“ und sich mal durch das Gesamtwerk von Bettina Wegner gewühlt hat; eine Erfahrung, die sie „einerseits abgestoßen, andererseits inhaltlich wahnsinnig gefesselt“ hat.

Deshalb empfindet sie die Bezeichnung Liedermacherin auch nicht als beleidigend, sondern eher als Kompliment. „Als hätte das, was ich mache“, sagt sie, „einen besonderen Wert.“ Dass sie das nicht selbst spürt, oder zumindest nicht offen zu sagen wagt, ist wieder eines dieser Indizien, die darauf hinweisen, dass auch in der Kunst die Arbeit von Frauen immer noch anders bewertet wird als die von Männern.

Mine hat daraus schon vor langer Zeit Konsequenzen gezogen: „Ich wollte nie sexualisiert wahrgenommen werden, sondern vor allem als Musikerin. Als Mann ist das eine Selbstverständlichkeit, aber als Frau geht es immer darum, was man körperlich mitbringt. Deshalb trage ich am liebsten weite Klamotten.“ Zum Auftritt in Klaas Haufer-Umlaufs Show war das ein sehr geräumiger, wie ein Kimono geschnittener Anzug ganz in Weiß. Der war auch sehr schön.

  • Mine Hinüber (Virgin Music/Universal)

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