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Platten im Test

Alben der Woche: Karibische Rhythmen, ein schwuler Papa und Taylor Swift ohne Bombast

Unter die Alben der Woche ist auf jeden Fall das neue Werk von Zara McFarlane. Foto: Adama Jalloh

Pünktlich zum CSD-Wochenende in Berlin gibt’s jede Menge empowernde Alben, die das Anderssein in vielen Facetten feiern. Extrastarke Frauen wie die jamaikansich-britische Geheimtipp-Jazzerin Zara McFarlane, unser alter Ex-Berliner Bekannte und Queer-Popper Rufus Wainwright und Legenden wie die Pretenders mit ihrer immer noch ultracoolen Frontsängerin. Und dann hat sogar noch Taylor Swift ein Album gedroppt – das offenbar sogar Nicht-Fans anspricht, munkelt man. Wir haben für euch neue Alben der Woche gehört – damit ihr wisst, welcher Soundtrack der Woche der eure werden kann.


Zara McFarlane: „Songs Of An Unknown Tongue“ (Brownswood/Rough Trade)

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Karibik-R&B Hypnose betreiben diese Tracks der britischen Jazz-Sängerin Zara McFarlane, 37. Magische Midtempo-Rhythmen gehen aufregend in die Beine – und lenken den Blick Richtung Himmel. Denn ja, Zara McFarlane singt über Erhaben-Übersinnliches (eine Hexe, Totenriten) und sie tut es auf die sinnlichste Weise. Das hat was von Neneh Cherry. McFarlane hatte sich auf Recherche nach Jamaika begeben, die Heimat ihrer Vorfahr*innen. Von dort hat sie Mythen, Rituale mitgebracht – und komplexe Rhythmen, die auch in ihrem Umfeld, der jungen coolen Jazz-Szene in London rund um Moses Boyd einschlugen. McFarlane feiert Schwarze und sie feiert Frauen. Eine empowernde Platte für heiße Sommernachtsträume. (Stefan Hochgesand)


The Chicks: „Gaslighter“ (Columbia/Sony)

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Country-Pop Das Dixie aus dem Bandnamen ist verschwunden – nicht mehr zeitgemäß angesichts von Black Lives Matter schien dem texanischen Country-Trio jene Romantisierung des alten Sklavenhalter-Südens. Ganz und gar nicht verschwunden, sondern so offen wie nie zuvor verhandeln The Chicks – neben den im Country unvermeidlichen Starke-Frauen-überleben-die-dümmsten-Männer-Durchhalte-Balladen – auf ihrem achten Album soziale und nicht zuletzt politische Themen. Damit dürften sie das Country-Stammpublikum nun endgültig vergrault haben. (Thomas Winkler)


Nadine Shah: „Kitchen Sink“ (BMG/Warner)

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Global-Rock Wenn ein Albumcover aussieht wie ein Kochbuch-Titel aus den 70ern und „Kitchen Sink“-Dramatik verspricht, ist klar: Hier geht’s tiiief hinein in die Niederungen des Alltags. Die Britin Nadine Shah, die immer wieder mit PJ Harvey verglichen wird, aber eigentlich klingt wie die Bad Seeds mit einer Soulsängerin anstelle von Nick Cave, erzählt doppelbödig und hinterhältig über die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen, über Kinderwünsche und Männeransprüche, denen niemand gerecht wird – und schafft damit ein elegantes, perkussives Stück Kammer-Postpunk, das an die unheilvolle Stimmung eines Theaterstücks von Yasmina Reza erinnert. Nur, dass die kathartische Katastrophe in vielen Songs ausbleibt. (Julia Lorenz)


Taylor Swift: „folklore“ (Universal/Taylor Swift)

Songwriter-Pop Taylor Swift hat lange am perfekten Popsong gefeilt, auf „1989“ mag ihr das ein paar Mal gelungen sein, zuletzt entglitt es ihr. Dem Bombast des wenig fokussierten Vorgängers „Lovers“ entkommt Taylor Swift mit ihrem überraschend veröffentlichten „folklore“ zum Glück völlig. In der Corona-Isolation besann sie sich auf das Erzählen von Geschichten (das kann sie) nah am Herz, oft auch nah am Wasser. The National und Bon Iver halfen ihr, ihren Trennungs- und Liebesgeschichten wieder einen natürlicheren Klang zu geben, Jack Antonoff (produziert auch Lana del Rey und Lorde) setzt das Piano an den richtigen Stellen. Stücke wie „This Is Me Trying“ und das orgelgetragene „Epiphany“ sind ganz starke Stücke, weil sie so klein, so introvertiert dargeboten werden – und Melodien schon immer ein Talent der Amerikanerin waren. Richtig Fahrt nimmt das Album nie auf, was keineswegs ein Kritikpunkt ist – „folklore“ ist sanft, beklemmend, traurig – und gut. Der perfekte Popsong ist manchmal umso näher, umso kleiner man denkt. Möglicherweise Taylor Swifts bestes Album – und eins, das ganz neue Käuferschichten erreichen könnte. (Sebastian Scherer)


Haim: „Women In Music, Pt. III“ (Polydor/Universal)

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Pop-Rock Dieses dritte Album von Haim beginnt mit einer Kurzbotschaft, einem maliziös hingehuschten, nichtsdestotrotz hochvirtuosem Saxofonsolo. Als wollte das Schwestern-Trio aus Los Angeles sagen: Ja, wir sind Super-Musikerinnen! Tatsächlich wurde die unüberhörbare Könnerschaft von Danielle, Este und Alana Haim jahrelang von der vorwiegend männlichen Kritik scheel begutachtet: Ja, tolle Musik, aber irgendwie blutarm. Deshalb sind diese großartigen Songs in ihren großartigen Arrangements nicht zuletzt auch ein feministischer Triumph. (Thomas Winkler)


Rufus Wainwright: „Unfollow The Rules“ (BMG)

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Queer-Pop Vorbei sind die Tage, da Rufus Wainwright traurig cruisend durch den Berliner Tiergarten streifte – um ihn als „tear garden“ zu bejammern auf seinem Berlin-Album „Release The Stars“. Der gute Rufus hat ja auch längst seinen Mann geheiratet, den er aus Berlin kennt, und er hat eine Tochter. Aber immer noch weiß man bei Rufus nicht, ob man gerade noch Whiskey mit ihm im Country-Saloon bechert oder ob man schon auf bordeauxroten Plüschsitzen champagnernippend in der Operette sitzt. Auf der neuen Platte (der ersten regulären Solo-Scheibe seit 2012) macht Rufus nix wirklich neu. Aber: Filigrane Holzbläser, Streicherflirren, spannende Tonartwechsel, und vor allem soooo viel Drama gibt es im Pop nur bei Rufus. Gestik, Lyrics, alles ist Camp. Susan Sontag hätte ihre helle Freude. Damit hat Wainwright schon vor zwei Jahrzehnten Pionierarbeit geleistet und jüngere schwule Songwriter wie Perfume Genius und Douglas Dare geprägt. Man muss einfach mal Danke sagen! Ein Album wie gemacht für den Katertag nach dem CSD. (Stefan Hochgesand)


The Pretenders: „Hate For Sale“ (BMG/Warner)

Rock Wie sie da stehen auf dem Cover zu viert, den Blick herausfordernd auf den Betrachter gerichtet, erinnert das doch verdammt an die drei ersten, legendären Alben der Pretenders aus den frühen 80er-Jahren. Und tatsächlich laufen Chrissie Hynde und ihre Mitstreiter auf ihrem elften Album zu alter Hochform auf. Souverän wird das ganze Spektrum abgeschritten, von der rotzigen Wut, die an den Klassiker „Precious“ erinnert, über die Poprock-Songs bis zum flockigen Reggae. Jeder Song ein schlagendes Argument, wie großartig und doch unterbewertet diese Band immer noch ist. (Thomas Winkler)


Konzerte finden bisher nur wenige statt – und besonderen Bedingungen. Auch deshalb haben nun Kulturschaffende eine neue Initiative gegründet – „One Berlin“. Auch in den Clubs der Stadt treten derzeit keine Musiker*innen auf – dafür gibt es neue Konzepte in Zeiten der Krise. Ganz die Hoffnung aufgeben wollen wir aber noch nicht. 2020 sind durchaus noch einige tolle Shows geplant. Und wenn es wider Erwarten doch so gar nicht mehr wird – diese Konzerte sollten uns 2021 Freude bereiten.

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