Zum Start von 2021 haben wir wieder das legendäre tip-Pop-Orakel angeworfen. Letztes Jahr lag es zwar katastrophal daneben, denn der Berliner Newcomer mit den meisten Spotify-Klicks 2020 war natürlich Christian Drosten, aber wer hätte das 2019 ahnen können?
Unter uns gesagt, ist das tip-Pop-Orakel nämlich gar nicht so übersinnlich, sondern besteht aus einer ganz weltlichen Jury: unseren Pop-Expert*innen Stephanie Grimm, Stefan Hochgesand, Benedikt Kendler, Ben-Robin König, Julia Lorenz, Henrike Möller, Linus Rogsch und Jens Uthoff. Die haben sich bei Nacht und Nebel (und vielleicht auch benebelt) Tracks von rund 50 Acts reingezogen, um die wichtigsten, vielversprechendsten, schlicht, die besten Berliner Newcomer*innen für 2021 zu ermitteln.
Platz 12: Elda
Psychedelic-Indie Ihre Reise nach Palästina inspirierte das All-Female-Trio Elda, deren Eltern teils von dort stammen, zu ihrem Song „8 Meters“: Ein psychedelisches Stück Indierock mit dominanten Drums, das einen – passend zur Identitätsthematik des Songs – im Uncanny Valley zwischen Unruhe und Sehnsucht hängenlässt. Dort lässt sich’s gut bis zur Debüt-EP „Golden Bowl“ im März 2021 aushalten, in die alle, denen Gitarrenmusik fade geworden ist, große Hoffnungen setzen dürfen. (Julia Lorenz)
Platz 11: Luis Ake
Schlager-Electronica Eines der bemerkenswertesten Debüts 2019 kam aus, hust, Karlsruhe: Luis Ake sang Drangsal’eske Texte, aber statt Gitarren packte er Electronica de luxe drauf. Zwischen geilem Bass-Stöhnen ging das im Falsett so: „Und deine Augen und mein Narzissmus / Ja mein Narzissmus / ist mein Schmerz. / Der Winter geht, und ein Stück / Eis fließt zum Regen zurück.“ Poesiealben-Ake ist der beste Mann, um Headache und Heartache halbwegs heil zu überstehen. Inzwischen wird er öfter in Neukölln gesichtet, wenn auch nicht so spärlich bekleidet wie in manchen seiner Videoclips. (Stefan Hochgesand)
Platz 10: Tuvaband
Rock Noir Wie könnte Lana Del Rey klingen, wenn sie sich auf mehr düster verzerrte Gitarren einlassen würde? Die norwegische Berlinerin Tuvaband macht es vor. Wir warten auf ihr nunmehr drittes Album, wobei das erste, self-released, völlig unter Radar lief. Geil, wie er schmerzt, dieser Shoegaze. (Stefan Hochgesand)
Platz 9: Rifts
Technopunk2077 Nanu, was macht Techno im Pop-Orakel? Was treibt hier einer, dessen Vocals allenfalls Samples entspringen, der zumeist eher stringenten Techno produziert, dessen Auftritte und privates Auftreten eher im subkulturellen Bereich der Klubs stattfindet? Ja nun. Rifts‘ Sets sind mitunter eine wilde Genremelange. Er mischt Techno mit Jungle, mit Breakbeats, wirft vielleicht etwas 90s Dance ein. Und ist dabei doch niemals beliebig. Ein junger Plattenpapst, der spielerisch zwischen ernsthafter Feiermusik und einem großem Herz für Hymnen und Kitsch jongliert. Letzteres aber wohldosiert. (Ben-Robin König)
Platz 8: Mieke Miami
Fliegenpilz-Folk Nein, mit einer Newcomerin im strengen Sinne haben wir’s hier nicht zu tun. Schon 2016 wurde die Berlinerin, die als Kind zwar nicht in Miami, aber dafür in Florida lebte, für die licht- und luftdurchlässigen Electro-Folk-Stücke auf ihrem Debüt „In The Old Forest“ rauf- und runtergelobt. Nach dem ersten Achtungserfolg wurde es still um Mieke Miami. Nun hören wir die dunklen Bläser auf „Horse“, einem halluzinogenen, märchenhaften Trip von einem Song – und warten auf der hellsten Waldlichtung auf das magische Kaninchen. Auf ein neues Album von einer der schönsten Stimmen der Stadt warten wir sowieso. (Julia Lorenz)
Platz 7: John Moods
Synth-Balladen John Moods ist der Mann für alle essenziellen Stimmungen: die melancholischen. Und so hieß dann auch sein Debüt (das man sich am besten auf Kassette gönnen sollte) prompt: „The Essential John Moods“. Als wäre er ein alter Bunny und brächte schon sein Best-Of raus! Mit so einem balladiert man gerne durch die Synthiesümpfe. Das hat er als Teil der Band Fenster und solosexy als Support des Maskenfetischisten Jonathan Bree bewiesen. Übrigens: Er gehörte zu jenen, die uns ein tip-Corona-Mixtape zauberten – reinhören! (Stefan Hochgesand)
Platz 6: Magic Island
Dark-Dream-Pop Die Songs von Emma Czernys 2019er-EP „Warm Heaven“, die lose auf Dantes „Göttlicher Komödie“ basieren, waren unkonventionell sinnliche Hohelieder auf Sex und Körperlichkeit, Songs zwischen Avant-R’n’B und Electronica für alle Möglichkeitsräume zwischen Schlafzimmer, Darkroom und Kopfkino. Benannt hat sich die berlinische Kanadierin allerdings nach einem ganz und gar weltlichen Ort: einer Berliner Eckkneipe namens Zauberinsel. Czernys eigenes magisches Eiland ist schon (zu) lange ein Geheimtipp. Und wohl auch in Zukungt ein Sehnsuchtsort für alle, die sich von sanften Synthesizern oder wilden Wassern umspülen lassen wollen. (Julia Lorenz)
Platz 5: Daði Freyr
Insulanerfunk Island taucht in europäischer Wahrnehmung eher als faszinierendes Ausflugsziel auf denn als Kulturstandort. Es ist Land der Geysire, der Wasserfälle, der mystisch-malerischen Postkartenlandschaft. Seit dem 2020 nicht stattgefunden Eurovision Song Contest (bei dem Daði Freyr hätte spielen sollen) wissen wir auch: Island ist auch Land des Electro-Funks, dank Internetsensation Dadi Freyr, der sich jüngst sich selbst nach Berlin exportierterte. Das längst vergessene Genre kommt genau recht, etwas Spiel in der lockdownbedingt eingeschlafenen Hüfte wird dringend gebraucht. Freundlicherweise wird das ganze visuell wohnzimmergerecht präsentiert. Iceland 12 Points! (Ben-Robin König)
Platz 4: Symba
Happytrap Nerf-Guns statt Waffen, Capri-Sonne statt Champagner, Playstation 2 statt dicker Karre: In Symbas Musik steht die typische Deutschrap-Attitüde Kopf. Leicht bekleidete Frauen sucht man in den Videos des Kreuzbergers vergebens, hier sind sie on trend unisex gekleideter Teil der Crew. Die Beats wie aus Videospielen, die Lyrics hektisch-sinnbefreit am Puls der Zeit. Dazu eine künstliche Verknappungsstrategie bei Veröffentlichungen, oder wie er sagt: „Die wolln ein Album doch bekommen kein Album – Das’n 3-Gang-Menü und nicht all you can eat“. Rap sans Sexismus und Beleidigung, nur das prollige Schuhwerk ist noch Bindeglied zur übrigen Szene. (Ben-Robin König)
Platz 3: J. Vague
Synthie-R’n’B-Yachtpop Wenn Sie schon immer mal eine Yacht klauen wollten, um an Deck bei Nacht Engtanz zu üben: Tun Sie’s zur Musik von J. Vague! Sein Sexymix aus vernebeltem Pop und 80er-R’n’B ist genau richtig, um verwirrte Herzen nach Monaten der physischen Distanz zu wärmen – und klingt ein wenig, als habe sich der junge George Michael auf eine von DJ Supermarkts „Too Slow To Disco“-Partys im Monarch verirrt. „My gedankenworld ist blitzend but my heart is also angegeilt“, schrieb ein polyglotter Fan auf Instagram. We feel you, man. (Julia Lorenz)
Platz 2: Zustra
Bombastpop Es gibt Musik, die qua ihrer Opulenz eigentlich nur auf großer Bühne oder zumindest großer Anlage gedacht werden kann; der man andächtig lauschen will. Mit „Shht!“ möchte man jene anherrschen, die dann direkt das Wort Stadiontauglichkeit einwerfen, das Musik sogleich leider auch wieder eine gewisse Beliebigkeit unterstellt. Das aber hier ist Pop, so schillernd und aufwändig gearbeitet wie ein Kirchenfenster. Die Stimme zwar zart, aber bestimmt. Die Arrangements ausladend, bisweilen sakral anmutend. Zustras Werke müssen keinen Machtanspruch formulieren, man spürt ihn. (Ben-Robin König)
Platz 1: Anna Erhard
Folk-Pop Ein Kind der Baseler Berge, hat es Anna Erhard nach Berlin verschlagen. Ein Klischee, das sie selbst wiederum klug zum Sujet in ihren Songs macht, die (produziert vom Wir-Sind-Helden-Drummer) was von Laura Marling, Taylor Swift, Phoebe Bridgers und Fenne Lily
haben. Superhit-Potential. (Stefan Hochgesand)
Wenn alles gut geht und unsere tip-Pop-Orakel-Jury Recht behält, landen einige dieser Acts sicher auch auf der Liste der besten Berliner Platten 2021. Wer noch mal nachsehen und nachlauschen will, welche Alben aus Berlin uns 2020 umgehauen haben, findet sie hier.