Piano, Gitarre, Bläser und Streicher: Die zeitlosen Songs der Berlinerin Stella Sommer sind großes Kino. Allerdings nicht gerade Soundtrack für Blockbuster, sondern für Nouvelle-Vague-Filme. Vielleicht erklärt das auch den rätselhaften Namen ihres Albums „Northern Dancer“. Ein Porträt.
Wer oder was war „Northern Dancer“? Das wäre doch eigentlich mal eine gute 16.000-Euro-Frage bei „Wer wird Millionär?“. Da der Name nach Musik klingt, würde man wohl auf eine Antwort tippen, die mit Tanz oder Musik in Verbindung stünde. Nun… weit gefehlt. „Northern Dancer“ war ein Galopprennpferd, ein sehr erfolgreiches. In den 1960er und 1970er Jahren rockte der behufte Tänzer die Rennbahnen.
Stella Sommer, bekannt als Bandleaderin von Die Heiterkeit, überführt den „Northern Dancer“ nun ins Reich der Musik. Ihr zweites Soloalbum heißt wie das englische Vollblut. „Als ich mal auf der Suche nach Songtiteln war, habe ich Namen von Rennpferden rausgesucht, weil die oft so ausgefallene Namen haben“, erzählt Sommer beim Interview im Büro ihres Berliner Managements. „,Northern Dancer‘ fand ich gut, das klingt so nach Popkultur, als sei das irgendein Klassiker-Album, das man unbedingt kennen muss.“
Beatles und Bob Dylan lassen grüßen
An Popklassikern – den Beatles, Dylan, Velvet Underground – orientiert sich die 33-Jährige auch im Songwriting, sowohl bei ihrer 2010 in Hamburg gegründeten Band Die Heiterkeit als auch mit ihrem Soloprojekt. „Meine Musik und meine Songs klingen oft so, als könnten sie auch schon in sehr viel früherer Zeit geschrieben worden sein. Das ist durchaus beabsichtigt, auch in Abgrenzung zu dem, was gerade aktuell ist.“
Dem nervösen und aufgeregten Zeitgeist entsprechen die Songs tatsächlich nicht. Bei Spotify werde „Northern Dancer“ kaum gut laufen, meint Sommer, schließlich müsse da „nach 30 Sekunden die Hook kommen“, während ihre neuen Songs ohne starke Rhythmusfraktion daherkämen. Ob bei ihrem Ansatz auch eine Art Nostalgie mitschwinge? „Nein, der Begriff Nostalgie zielt für mich darauf ab, dass jemand eine Zeit miterlebt hat und sich nach ihr zurücksehnt. Mich reizt eher das Zeitlose.“
Stella Sommer hat diese unverkennbare Altstimme!
Die Acts, auf die sie sich bezieht, waren in der Tat lange vor ihrer Geburt en vogue – Sommer ist Jahrgang 1987. Aufgewachsen ist sie in St. Peter-Ording im hohen Norden. Den deutschsprachigen Pop jüngerer Zeit hat sie mitgeprägt: Die Alben ihrer Band Die Heiterkeit, „Pop & Tod I+II“ (2016) und „Was passiert ist“ (2019) sorgten in den Feuilletons für Begeisterung, auch ihr Solo-Debüt „13 Kinds of Happiness“ (2018) wurde sehr positiv aufgenommen.
Sommer schreibt dunkle Songs, die auf Piano- oder Gitarren-Tonfolgen basieren, versehen mit dieser unverkennbaren, tiefen Altstimme. Das klingt oft nach hohem Stil und großem Drama.
Man muss sich einen Film dazu denken
Während bei Die Heiterkeit der Pop-Appeal dazukommt, geht es auf „Northern Dancer“ getragen, melancholisch, mellow zu. „Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass das Instrumentarium anders ist. Es klingt sehr viel klassischer als bei Die Heiterkeit, weil fast gar kein Schlagzeug dabei ist. Dafür viele Bläser und Streicher. Das verleiht dem ganzen einen fast filmischen Charakter.“
Der Film, den man sich dazu denken muss, wäre eher Neorealismo oder Nouvelle Vague als ein Hollywood-Blockbuster. Ein weiterer Unterschied zu Die Heiterkeit ist, dass sie als Solokünstlerin meist Englisch singt, während sie in ihrer Band fast ausschließlich auf Deutsch textet.
Dass Sommer ein Kind der Popkultur des 20. Jahrhunderts ist, zeigt sich in ihren Lyrics, etwa in „The Eyes Of The Singer“, dessen Text auf Elvis referiert. Sommer: „Wenn man Aufnahmen von Elvis auf der Bühne sieht, dann ist das so ‚larger than life‘: dieses Blitzen in den Augen, das Licht, das in den Augen reflektiert…“
Jene Augen können einen verfolgen, lernt man in dem Song, den sie geschrieben hat. „The eyes of the singer/ are following you/ follow you down/ to the bridge and then further/ follow you down/ to the feelings you nurture”, singt sie darin, zwischen hoher und tiefer Stimmlage changierend.
Stella Sommer ist eine Vielschreiberin
„In den Augen der Popmusiker habe ich oft irgendetwas gesehen, das ich nicht verstanden habe. Es kam mir so vor, als wüssten die etwas, das ich nicht weiß. Das war lebensverändernd. Gar nicht mal für mich als Künstlerin, sondern in erster Linie als Musikfan.“ Wobei heute auch in ihrer Musik, in ihrer kühlen, teils fast sachlich klingenden Stimme, ganz sicher etwas Verborgenes, Geheimnisvolles liegt.
Zuletzt hat Stella Sommer jedes Jahr ein neues Album veröffentlicht, sie ist eine Vielschreiberin. Dabei würde sie eigentlich gern noch mehr komponieren, wie sie sagt, aber an jeder Plattenveröffentlichung hingen eben noch jede Menge Orga und Promoaktivitäten. „Songs schreiben kann ich nur, wenn ich nichts anderes im Kopf habe. Bemerkenswert ist, wie wenig sie sich bislang dabei wiederholt. Auch auf „Northern Dancer“ ist das so: Jeder der zehn Songs steht monolithisch für sich; redundant wirkt das nie.
Stella Sommer ist in der jüngeren Berliner Popgeneration angekommen
Auch wenn Sommer erst seit Anfang 2018 in Berlin lebt – zuvor wohnte sie in Hamburg –, darf man sie der jüngeren Berliner Popgeneration um Künstler wie Max Gruber (Drangsal), Hendrik Otremba (Messer) oder Max Rieger (Die Nerven) zurechnen, die für eine sehr eigene Ästhetik fernab ausgelatschter Pop-Pfade steht. Nimmt sie diese Künstler als zusammengehörige Szene wahr? „Wir kennen und schätzen uns alle, deshalb kann ich es verstehen, wenn das von außen wie eine Szene wirkt. Andererseits machen wir alle inhaltlich und musikalisch ganz unterschiedliche Sachen. Jeder hat da eine ganz eigene Stimme.“
Stella Sommers Stimme war zuletzt auf der Bühne coronabedingt sehr selten zu vernehmen – auch bei ihr hat die Pandemie zur Absage einiger Konzerte geführt. Für das nächste Jahr schaue man gerade, „was machbar ist“, aber planen lasse sich derzeit kaum so weit im Voraus. Zum Glück hindert Corona sie nicht daran, Songs zu schreiben und weiter Alben veröffentlichen. Die Titel werden ihr im Übrigen nicht so schnell ausgehen. In Northern Dancers Verwandtenkreis ist noch einiges zu holen – sein Großvater hieß zum Beispiel Native Dancer.
Mehr Musik aus Berlin
„Die Ungreifbare“ nannten wir sie, als wir über Stella Sommer und Die Heiterkeit geschrieben haben. Neugierig geworden? Die Rezension zu Stella Sommers Album und neuen Platten von Gorillaz und Eels findet ihr hier. „Northern Dancer“ könnt ihr natürlich überall kaufen – wir empfehlen euch besonders diese schönen Plattenläden in Berlin. Vinyl macht euch nostalgisch? Wir schwelgen auch in alten Zeiten. Diese legendären Konzerte in Berlin werden wir nie vergessen.