Es ist ein magischer Moment, wenn das Licht ausgeht, die Instrumente bereit sind und die Band endlich die Bühne betritt. Vor dem ersten Song dann diese freudige Anspannung. Und nach der allerletzten Zugabe: glückselige Erschöpfung. Wir vermissen Konzerte – und blicken deshalb zurück auf einige ganz besondere Shows. Hier sind 12 unvergessene Konzerte in Berlin: von David Bowie über die Ärzte bis zu Seeed.
David Bowie: „Heroes“ (2002, Max-Schmeling-Halle)
Knapp 14 Jahre nach seinem legendären Konzert vor dem Reichstag albert ein bestgelaunter, blendend aussehender David Bowie mit Bassistin Gail Ann Dorsey herum. Er kündigt an, das in Berlin aufgenommene „Low“-Album (fast) komplett zu spielen („Thank God you know it!“). Bietet Fans Heimfahrt-Plätze in seinem Wagen an. Und zelebriert dann eine „Heroes“-Version für die Ewigkeit.
Da sind es keine zwei Jahre mehr bis zu seinem allerletzten Konzert beim Hurricane-Festival in Scheßel.
Die Ärzte: „Zu spät“ (2003, Mariannenplatz)
Wenn schon Geburtstag feiern, dann aber die ganze große Party: Die Ärzte lassen es beim 20-jährige Bandjubiläum, genauer: 15 Jahre Netto (wegen der zeitweiligen Auflösung) krachen. Und machen 35.000 Fans auf dem Kreuzberger Mariannenplatz happy. Bei der ersten Zugabe „2000 Mädchen übernimmt noch einmal The Incredible Hagen den Bass (wir vermissen dich, Hagen!). Und als letzten Song des Abends hauen Farin, Bela und Rod eine Killer-Version ihres Hits „Zu spät“ raus. Und am Ende alle so: „Ficken!“
Rio Reiser: „Zauberland“ (1988, Werner-Seelenbinder-Halle)
Ein Jahr vor dem Mauerfall kommt der „König von Deutschland“ nach Ost-Berlin. Rio der Erste gibt zwei Konzerte in der Werner-Seelenbinder-Halle am S-Bahnhof Leninallee. Den Scherben-Klassiker „Keine Macht für Niemand“ darf er nicht spielen. Das verbietet ihm der FDJ-Zentralrat. Die 20.000-DM-Gage übernimmt der Jugendsender DT 64. Es sind die letzten beiden Konzerte, in der der Scherben-Mitbegründer R.P.S. Lanrue und Rio Reiser gemeinsam auf der Bühne stehen. „Zauberland ist abgebrannt.“
Nina Hagen: „Berlin (Ist Dufte!)“, (1988, Berlin Rock Marathon, vor dem Reichstag)
1988: der Sommer, in dem der Systemwettstreit mit Rockkonzerten geführt wird. Im Ost-Berlin lässt die FDJ ein paar ganz große West-Rockstars ins Land. Genauer: an die Radrennbahn in Weißensee. Joe Cocker, James Brown, Bruce Springsteen – dazu gleich mehr. West-Berlin kontert mit Michael Jackson und Pink Floyd vor dem Reichstag.
Und mit dem siebenstündigen „Berlin Rock Marathon“ mit ausschließlich Berliner Acts vor dem Reichstag. Dabei sind die Rainbirds, Rio Reiser, Udo Lindenberg. Und Nina Hagen, die einen bitterbösen Gruß rüber nach Weißensee schickt. Und ihrer alten Heimat, der Hauptstadt der DDR, ein wunderbar süffisantes, brandneues Lied namens „Berlin (Ist Dufte!)“ widmet: „Die Mauer muss weg!“
Bruce Springsteen & The E Street Band: „Chimes of Freedom“ (1988, Radrennbahn Weißensee)
Das größte Konzert, das die DDR je gesehen hat. Ein bis zwei Prozent der sozialistisch entwickelten Bevölkerung strömen auf das Gelände hinter der Radrennbahn Weißensee. Zäune werden umgerannt, FDJ-Ordner verzweifeln. Und dann rollt die Dreieinhalb-Stunden-Show an.
Eine Stunde ist vorüber. Gerade hat Springsteen den 160.000 bis 300.000 Besuchern (so genau weiß das keiner) eine brachiale Version seines Mitgröhl-Hits „Born In The U.S.A.“ um die Ohren gedroschen. Da holt er einen Zettel hervor und liest auf Deutsch etwas holprig eine Ansprache vor: „Ich bin gekommen, um Rock’n’Roll zu spielen für euch Ost-Berliner – in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden.“
Buchstäblich in letzter Sekunde hat sein Manager Jon Landau verhindert, dass der Boss statt „Barrieren“ das Reizwort „Mauer“ sagt. Es reicht aber auch so, einem Studiotechniker beim DDR-Jugendradio DT 64 den Schock seines Lebens zu versetzen. Der kann in der leicht zeitversetzten Radioübertragung von Teilen des Konzerts gerade noch mitten in der Rede mit einer panischen Schweineblende verhindern, dass das Wort „Barrieren“ über den Äther geht. In der Fernsehaufzeichnung fehlt die Rede vollständig. Sie ist nur auf Bootlegs überliefert.
Und dann spielt die E Street Band Bob Dylans surrealistischen Klassiker „Chimes of Freedom“. Und alle wissen genau, wie es gemeint ist.
Ideal: „Berlin“ (1981, Waldbühne)
Eine dieser Berlin-Hymen, die bleiben wird, egal, was noch kommt. 1981 wird die SFB Rocknacht live im Fernsehen und parallel dazu in Stereo im Radio übertragen. Neben Spliff, Interzone und White Russia spielen Ideal mit der Sängerin Annette Humpe zum Finale ihres Sets eine fiebrige Version ihres größten Hits: „Ich fühl‘ mich gut, ich steh‘ auf Berlin!“
Die tödliche Doris: „Schuldkultur“ (1981, Festival Genialer Dilletanten, Tempodrom)
Die große Untergangsshow für faire 6 Mark Eintritt: Am 4. September 1981 treffen im Tempodrom eine Vielzahl junger, experimenteller, klangkünstlerischer und im falsch geschriebenen Wortsinne genialer Dilletanten erstmals auf großer Bühne aufeinander. Dissonant devianten Krach bis unters Zeltdach kredenzen unter anderem die Einstürzenden Neubauten, Wir und das Menschliche e.V., Sprung aus den Wolken, Christiane F. oder Din A Testbild.
Und: die tödliche Doris. Wolfgang Müller tritt gemeinsam mit Dagmar Dimitroff und Nikolaus Utermöhlen lautstark in Erscheinung. Das könnte jetzt ein bisschen weh tun. In den Ohren.
Fela Anikulapo Kuti: „Power Show“ (1978, Berliner Jazztage, Philharmonie)
Unsere weiteste Zeitreise führt bis ins Jahr 1978. Bei den Jazztagen fliegt der König des Afrobeats mit seiner Band Africa 70 aus dem tropisch heißen Lagos ein. Mit an Bord sind Fela Kutis 27 Ehefrauen (der Sexismus des nicht an eben Bescheidenheit leidenden Bandleaders war auch auf der Bühne notorisch). Die Band kommt in Sandalen und Dashiki-Hemden im kalten Berliner November an. Weshalb die Jazztage-Organisatoren mal eben Winterkleidung für 75 Leute herbeischaffen muss.
Für das Publikum ist das perkussiv energiegeladene Konzert eine überaus verstörende Erfahrung. Es gibt Pfiffe und Buhrufe. Die Kritiken in den Zeitungen sind dann derart verheerend, dass die anschließend geplante Westdeutschland-Tour abgesagt werden muss. Zum Glück überträgt die ARD das Konzert. So ist dieser Meilenstein der Musikgeschichte bis heute auf Youtube zu bewundern.
New Order: „Love will tear us apart“ (2012, Tempodrom)
Vom einzigen Berliner Joy-Division-Konzert im Januar 1980 im Kant-Kino, von Mark Reeder organisiert, ist leider kein Video auf Youtube zu finden. Einige Monate darauf stirbt Sänger Ian Curtis von eigener Hand. Aber 2012 geben New Order ihr erstes Konzert in der Stadt seit mehr als einem Jahrzehnt. Und spielen natürlich auch den größen Hit ihrer Vorgänger-Band: „Love will tear us apart.“
Depeche Mode: „Enjoy the Silence“ (2013, Mehrzweckhalle am Ostbahnhof)
Genieße die Stille. So ist es derzeit in den Konzertarenen der Stadt. Immer noch. So gesehen passt der 80er-Klassiker von Depeche Mode, der immer noch irgendwie futuristisch klingt, ziemlich gut. Das Video stammt aus dem November 2013, als Dave Gahan und Co. die überdimensionale Halle am Ostbahnhof für zweimal zwei Stunden zu ihrem Wohnzimmer machen. „Enjoy the Silence“. Ach menno.
Radiohead: „Creep“ (2016, Lollapalooza)
Jahrelang stand „Creep“ bei Radiohead quasi auf dem bandinternen Index. Schon bei der Studioaufnahme soll Jonny Greenwood versucht haben, den Song auf seine Gitarre quasi noch im Entstehen zu zerschreddern. Was eher den gegenteiligen Effekt hatte. Als Radiohead beim September 2016 das Lollopalooza-Festival im Treptower Park als Headliner bestreiten, ist es keine vier Monate her, dass Tom Yorke den Song erstmals nach sieben Jahren Pause in Paris wieder vollständig gesungen hat.
Auch im Treptower Park steht der Song nicht auf der ausgedruckten Setlist. Radiohead spielen ihn trotzdem: als vorletzte Zugabe. „I don’t belong here.“ Zum Sterben schön.
Seeed: „Dickes B“ (2013, Waldbühne)
Im September 2020 hätten Seeed endlich wieder in Berlin spielen sollen. Die Tickets für die Shows in der Waldbühne und der Kindl-Bühne waren ratzfast ausverkauft. Dann kam Corona, die Stille, die Leere.
Die acht Konzerte sollen 2021 im Juli und August nachgeholt werden. Hoffen wir mal das Beste. Bis es soweit ist, schwelgen wir eben noch ein bisschen in Erinnerungen. Zum Beispiel an das Waldbühnen-Konzert 2013 mit dem fulminanten Kracher „Dickes B“.
Es war auch ein August-Tag. Auch ein Sommerabend. Was haben wir getanzt. Und lagen uns in den Armen. Eine große glückliche Menschenmasse. Und um uns herum all diese Musik.
Mehr Musik in Berlin
So eng mit Berlin verbunden wie kaum eine andere Band: Die Geschichte der Ärzte erzählen wir euch hier. Was ihr über das Pop-Chamäleon David Bowie und dessen Berliner Jahre wissen müsst, steht hier. Über Geschmack lässt sich streiten, aber diese 12 Berliner Bands sind wirklich wichtig.