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Berliner Kulturleben

Kultur in Berlin am Kipp-Punkt: Bernd Scherer im Gespräch über Corona und die Auswirkungen

Die meisten Leiter*innen Berliner Kulturhäuser wollen ihre Institutionen vorerst bis 19. April schließen. Und lang hielt sich die Hoffnung, dass das Gallery Weekend Anfang Mai stattfinden könne. Bernd Scherer dagegen, Intendant am Haus der Kulturen der Welt, sagte am 16. März alle Veranstaltungen seines Hauses gleich bis Ende Mai ab. In unserem Telefon-Interview von Home-Office zu Home-Office geht er sogar noch weiter.  

Bernd Scherer, 64, Intendant des Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Bernd Scherer, 64, Intendant des Haus der Kulturen der Welt, Berlin 

Herr Scherer, wie ging es Ihnen, als Sie mit Ihrem Team ausgemacht haben, das Haus der Kulturen der Welt für zweieinhalb Monate zu schließen?  

Das war schon ziemlich unheimlich.  Man hat die Sicherheit, dass die Entscheidung richtig ist, gleichzeitig entscheidet man in eine Lage hinein, die man nicht überschaut – über mehr als zwei Monate, in denen wir auch viel weniger Austausch mit unseren Besuchern haben werden. Das führt in eine Limbo-Situation, in eine Leere, in der es schwierig wird, zu navigieren. 

Wäre das nicht genau ein Grund gewesen, sozusagen auf Sicht zu fahren, also einen kürzeren Zeitraum zu wählen 

Uns war klar, dass das Covid-19-Virus und seine Folge einen großen Einschnitt in unsere Leben, unsere Arbeit und in gesellschaftliche Prozesse mit sich bringen wird. Deshalb haben wir gesagt: Wir stoppen das erst einmal. Wir haben sogar beschlossen: Mit größeren Programmen werden wir erst im Herbst wieder herauskommen. Ziel ist es dabei auch, Verantwortung gegenüber Partnern und Künstler*innen zu übernehmen, dass diese in unsicheren Zeiten planen können. 

Warum? Haben Sie Experten konsultiert?  

Was wir momentan mit dem Virus erleben, hat sehr viel mit dem Phänomen des Anthropozän zu tun, mit dem sich unser Haus seit Jahren auseinandersetzt… 

also mit dem Zeitalter, in dem wir Menschen zum maßgeblich beeinflussenden Faktor von Erde und Atmosphäre geworden sind 

Eine grundsätzliche Erfahrung des Anthropozän ist es, dass der Mensch den ganzen Planeten transformiert, wesentliche Parameter aus der Balance bringt. Das heißt, es gibt für uns keinen Ort mehr, an den wir uns zurückziehen und das Geschehen von außen betrachten könnten. Wir sind immer in dessen Mitte. So sieht auch die Erfahrung mit dem Virus aus. Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die dachten noch vor zwei, drei Wochen: Wir fliegen nach Teneriffa, nach Mallorca und überwintern sozusagen dort das Virus. Das hat sich als Scheinoption erwiesen. Es gibt keinen Ort, an den wir fliehen könnten. Die planetarischen Dimensionen unseres Handelns werden in dieser Krise erfahrbar. 

Das wäre die räumliche Dimension.  

Es gibt auch eine zeitliche: Wir wissen nicht, wie lang uns das Virus beschäftigen wird. Wissenschaftler sprechen immer wieder davon, dass es in Wellen kommen kann. Zudem gibt es wie bei dem Virus den exponentiellen Anstieg. In der Anthropozän-Debatte heißt er „Great Acceleration“, die große Beschleunigung.  

Wie beim Klimawandel?  

Zum Beispiel. Mit exponentieller Einwirkung werden neue Phänomene geschaffen – die wir nicht mehr beherrschen können, wenn bestimmte Punkte überschritten sind. Das ist das, was die Klimaforscher „Tipping Point“, Kipp-Punkt nennen. Wir haben zum Beispiel vor drei, vier Wochen noch überlegt, ob wir zu einer Veranstaltung im Gaza reisen sollten, die wir dort am 7., 8. April verwirklichen wollten. Das war da noch eine Diskussion mit Für und Wider, drei Wochen später würde man es nun völlig irrsinnig nennen. Es beginnt also schleichend: Man weiß nur, da gibt es irgendwo ein Problem. Doch was es für einen selbst und die Gesellschaft bedeutet, wird erst klar, wenn diese Kipp-Punkte erreicht sind. Unser Alltag ändert sich nun in Sprüngen.  

Wie fährt man ein so großes Haus wie das HKW herunter?  

Wir fahren es nicht ganz herunter. Zur Zeit arbeiten acht bis zehn Projektgruppen an Vorhaben für den Herbst und das nächste Jahr. Sie machen weiter, und wer das kann, arbeitet im Home-Office. Wir überlegen nun, ob wir die Ausstellung zu Aby Warburg im Herbst 2020 oder im nächsten Jahr nachholen.  

Wasob so oder soeine Verschiebung und Umorganisation des gesamten Programms bedeuten würde   

Eigentlich ja, aber für nächstes Jahr haben wir eine längere Pause für Bauarbeiten an der großen Ausstellungshalle angedacht. Die versuchen wir nun zu verschieben, um in dieser Zeit die ausgefallene Ausstellung nachzuholen.  

Sie wollen sie nicht online zeigen, wie es jetzt beispielsweise die Akademie der Künste mit ihrer großen John-Heartfield-Schau tut?  

Nein, wir wollen sie live zeigen.  

Was bedeutet die Schließung für festes Personal wie aus der Technik? 

Die Techniker*innen bauen jetzt Überstunden und nehmen alle noch offenen Urlaubstage des vergangenen Jahres. Und je nachdem, wie lange es dauern wird, kann es danach auch Kurzarbeit geben. Wir versuchen da auch in Einzelfällen konstruktive Lösungen zu finden, um zu vermeiden, dass unsere Mitarbeiter*innen in Notlagen geraten.  

Was ist mit Künstlern, Künstlerinnen und anderen Gästen, die einen Auftritt zugesagt haben und Honorar erhalten hätten?   

Wo feste Verträge bestehen, werden sie bezahlt, und wo es feste Absprachen gab, gehen wir ebenfalls davon aus. Dort, wo es noch keine festen Abmachungen gegeben hat, müssen wir bis Ende April warten, was wir sagen können. So teilen wir es den Künstlern und Künstlerinnen auch mit.  

Ihr Haus ist gut ausgestattet. Was können kleinere Häuser tun? Sprechen Sie darüber mit Leitern und Leiterinnen anderer Institutionen 

Es gibt Gespräche sowohl unter Intendant*innen wie auch mit Frau Grütters, der Kulturstaatsministerin, und Herrn Lederer, dem Kultursenator: darüber, wie die größeren Institutionen die freie Szene unterstützen können. Dazu werden bald Äußerungen kommen.   

Viele Häuser arbeiten jetzt mit neuen Formaten online. Wie sieht das an Ihrem Haus aus?  

Wir haben nicht spontan reagiert, weil wir gesehen haben, dass aus der freien Szene viele schnelle, teils sehr gute neue Entwicklungen kommen. Und jetzt ist erst einmal Solidarität gefragt – und zwar von den großen Häusern mit der freien Szene. Als ein Haus, das sich eher mit Langzeit-Transformationsprozessen auseinandersetzt, haben wir zudem Arbeitsgruppen eingerichtet, in denen eine Weiterentwicklung schon bisher bestehender Digitalstrategien erarbeitet wird. In diesem Sinne ist die Krise auch eine Chance. 

Hinweis:  

Zur abgesagten Ausstellung über den Kunst- und Kulturwissenschaftler erscheint ein Bild-Atlas, der in die 

 – in Berlin – geöffneten Buchhandel ausgeliefert werden kann:  

Aby Warburg: Bilderatlas MNEMOSYNE 

The Original. Hrsg. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute, London; Roberto Ohrt, Axel Heil, Text(e) von Roberto Ohrt, Axel Heil, Bernd M. Scherer, Bill Sherman, Claudia Wedepohl, Gestaltung von Axel Heil, Christian Ertel, fluid editions 
Englisch, 2020. 184 S. , 83 Abb., Gebunden, 44,00 x 60,00 cm 

EUR 200,00 


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