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Interview

Anna Nezhnayas Ausstellung „Portal“ im Schau Fenster: Fantasie als einziger Ausweg

Nachdem Museen und andere Ausstellungsorte für den zweiten Lockdown geschlossen haben, suchen Künstler*innen nach alternativen Möglichkeiten, ihre Arbeiten zu zeigen. Zum Beispiel hinter der riesigen Fensterfront von Schau Fenster, einem Kreuzberger Projektraum. Hier hat die junge Künstlerin Anna Nezhnaya mit „Portal“ eine Ausstellung über die Kraft der Fantasie in Zeiten der Pandemie organisiert

Zu den 24 Teilnehmenden der Ausstellung „Portal“ gehören unter anderem Alicja Kwade, Gregor Hildebrandt, John Isaacs und Kristina Bekker. Wir fragten Anna Nezhnaya vor Ort, wie es ist, mitten in der Pandemie eine Ausstellung zu machen.

Anna Nezhnaya in der "PORTAL"-Ausstellung, Schau Fenster Berlin, mit Arbeiten von Emmanuel Pidré und Lukas Glinkowski. Foto: Fabia Medoza
Anna Nezhnaya in der „PORTAL“-Ausstellung, Schau Fenster Berlin, mit Arbeiten von Emmanuel Pidré und Lukas Glinkowski. Foto: Fabia Medoza

tipBerlin Anna, Sie sind Künstlerin, und als Kuratorin haben Sie nun Ihre erste Ausstellung „PORTAL“ ausgerechnet im Lockdown organisiert – nicht in einem konventionellen Ausstellungsraum, sondern in dem großen Schaufenster des gleichnamigen Kreuzberger Projektraums. Was war das für eine Erfahrung?

Anna Nezhnaya Ich habe mir Kunst immer als etwas vorgestellt, das zuallererst den Sehsinn des Betrachters anspricht. Daher ist das hier die perfekte Gelegenheit gewesen, alle Kunst, die ich bewundere, in einem Fenster zu versammeln – wie in einem Bild. Ich habe mir eine Komposition vorgestellt, wie ich sie malen oder zeichnen würde, und so habe ich mir diesen surrealen Raum in einem ganz realen Fenster ausgedacht.

tipBerlin Passanten haben Sie also dabei gesehen, wie Sie an der Ausstellung gearbeitet haben?

„Die Straßen von Berlin sind sehr freundlich“

Anna Nezhnaya Ich habe Aufmerksamkeit erregt. Sie haben ans Fenster geklopft, gewunken, sie haben gefragt, ob sie hineinkommen dürfen. Was sie durften, sofern sie eine Maske trugen, nur einzeln eintraten oder zu zweit aus einem gemeinsamen Haushalt kamen.

tipBerlin Normalerweise schließt ein Ausstellungsraum für den Umbau. Sie dagegen haben offenbar die Fenster nicht verhangen, sie sind zu groß. Sie haben die Ausstellung gleichsam unter öffentlicher Beobachtung aufgebaut.

Anna Nezhnaya Die Straßen von Berlin sind sehr freundlich. Man trifft eine Menge Bekannte. Wenn man etwas Interessantes macht, passen alle auf und geben Feedback. Ich hatte nur nette Begegnungen. Darüber hinaus war es eine intensive Erfahrung, weil die Menschen während der Corona-Pandemie nicht viel zu sehen bekommen.

Die Ausstellung „Portal“ im Schau Fenster Berlin. Von links nach rechts: Arbeiten von Ryan Mendoza, Alicja Kwade, Minor Alexander und Silvestre Preciado. Foto: Fabia Mendoza

tipBerlin Dieses Schaufenster hier ist eine lange, enge Passage. Was mussten Sie da bedenken, bevor Sie mit dem Aufbau der Objekte, Gemälde und Fotografien beginnen konnten?

Anna Nezhnaya Ich hatte schon zuvor viele Ausstellung bei Schau Fenster angesehen. Daher konnte ich mir genau ausmalen, wie ich vorgehen musste. Zum Beispiel hatte ich mir vorgestellt, dass ich diese Säulen hier…

tipBerlin …es gibt drei davon …

Anna Nezhnaya …. dass ich auch sie dafür nutze, um Arbeiten daran aufzuhängen, und dass ich zwischen den dreien noch weitere Säulen aufstelle für die Skulpturen. Die Ausstellung sollte von außen betrachtet wie ein großes Bild funktionieren, und wenn man hineingeht, als dreidimensionaler Raum.

tipBerlin Mussten Sie Banalitäten bedenken wie: Die großen Arbeiten sollen nach hinten, die kleinen nach vorn?

Kristina Bekker, "The Source", Sterlingsilber, Flussperlen. Foto: Anna Nezhnaya
Kristina Bekker, „The Source“, Sterlingsilber, Flussperlen. Foto: Anna Nezhnaya

Anna Nezhnaya Objekte wie die kleine Arbeit von Kristina Bekker, ein Tangahöschen aus Silberdraht mit Perlen dran, sind direkt am Fensterglas platziert. Betrachter können sie sich genau ansehen. Aber für eine Arbeit von Alicja Kwade ist es auch in Ordnung, sie auf einer Marmorstele in der Raummitte zu zeigen. Alicjas Arbeit ist sehr klassisch: Ihre heruntergebrannten Kerzen aus Bronze und Sprühfarbe symbolisieren Vergänglichkeit.

tipBerlin Kunst hinter einem Fenster fehlt der Sound, der körperliche Eindruck, der Geruch.

Anna Nezhnaya Diese Arbeiten sind abgeschlossen, daher riechen sie dankenswerterweise nicht (lacht). Aber ja, das Video von Tim Plamper ist ohne den Sound nicht komplett. Und das von Katya Quel Elizarova transportiert zwar mehr visuelle als akustische Informationen, kann jedoch von der Straße nicht vollständig wahrgenommen werden. Das ist der Verlust, wenn man unter den Bedingungen des Lockdowns eine Ausstellung macht.

„Ich wünsche mir, wir könnten aus der gegenwärtigen Situation entkommen wie Alice im Wunderland“

tipBerlin Die Ausstellung heißt „Portal“. Sie handelt von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“, die in ein Kaninchenloch stolpert und sich in einer Fantasiewelt wiederfindet. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Anna Nezhnaya Ich habe über Portale als Türen zu einer anderen Welt nachgedacht, und eines der schönsten Beispiele aus der Literatur dafür ist „Alice im Wunderland“. Mein eigener Beitrag in der Schau, eine Neon-Arbeit“, heißt „Hinab in das Kaninchenloch“. Es zeigt sowohl das Kaninchen wie Alice, in einer freien Interpretation, einem Witz, einer Metapher.

Ich wünsche mir, wir könnten aus der gegenwärtigen, schwierigen und ungewöhnlichen Situation, in der wie alle uns gerade befinden, entkommen wie Alice. Aber wenn Sie genauer auf meine Arbeit schauen, sehen sie, dass sie eine auf dem Kopf stehende Umkehrung von Gustave Courbets Gemälde „Der Ursprung der Welt“ ist, und das wiederum zeigt eine Frau als den Ursprung einer künftigen Geburt des Universums.

Von links nach rechts: Arbeiten von Alexander Skorobogatov, Gregor Hildebrandt, Alexander Skorobogatov, Anna Nezhnaya und Lukas Glinkowski. Foto: Fabia Medoza
Von links nach rechts: Arbeiten von Alexander Skorobogatov, Gregor Hildebrandt, Alexander Skorobogatov, Anna Nezhnaya und Lukas Glinkowski. Foto: Fabia Medoza

tipBerlin Aus Courbets Sicht dient die Vagina der Frau als das Portal. Aber was bedeutet es, zu entkommen? Die Fantasie freilassen statt permanent den Nachrichten über Infektionsraten und Todesfälle zu folgen?

Anna Nezhnaya Genau. Diese Zeit ist eine harte Prüfung, wenn man sich auf sich selbst konzentrieren will. Es gibt so viele Menschen, denen es nicht möglich ist, mit ihren Freunden zu sprechen, die keine Familie haben, die einsam sind. Der einzige Weg aus dieser Situation führt über die Fantasie. Ich habe versucht, bestimmte Arbeiten auszuwählen, die uns in eine andere Dimension bringen.

tipBerlin Würden Sie ein Beispiel zeigen?

Anna Nezhnaya Zum Beispiel diese zwei Gemälde von Lukas Glinkowski, einem Berliner Künstler und ehemaligen Studenten von Katharina Grosse. Ein Bild zeigt Kacheln mit der offiziellen Gedenk-Inschrift am Bahnhof Westend, von dem jüdische Menschen in Konzentrationslager deportiert wurden. Das zweite Gemälde transformiert die Dokumentation dieser traurigen Vergangenheit in Fantasie: Es zeigt den Terminator, der aus der Zukunft in die Vergangenheit reist, um diese Menschen zu retten.

tipBerlin Und dieses Bild hier muss von Gregor Hildebrandt sein.

Anna Nezhnaya Richtig, die Tonträger in diesem Stück speichern noch immer Klanginformationen, aber wir kennen sie nicht und haben keinen Schlüssel dafür. Sie bleiben ein Mysterium.

tipBerlin Und wer hat dieses schöne, kleine Haus hier in der Fensterecke geschaffen?

Anna Nezhnaya Sandra Vásquez de la Horra. Sie kombiniert ihre Arbeit mit Einflüssen aus Mexiko und Lateinamerika. Dieses kleine Holzhaus ist mit Bleistift bemalt, und Sie können der Figur, die hier zwischen das Muster gemalt ist, ins Innere des Hauses folgen.

„Während der Vorbereitung dieser Ausstellung habe ich den Lockdown nicht so sehr gespürt“

tipBerlin War es schwierig, die Künstler und Künstlerinnen, vor allem die bekannteren, zur Teilnahme an einer Ausstellung einzuladen, deren Beginn in den zweiten Lockdown gefallen ist?

Anna Nezhnaya Im Gegenteil, die Reaktionen waren sehr positiv. Sie hatten alle den Eindruck, irgendetwas tun zu müssen. Und es war die richtige Zeit, um aktiv zu werden: Während der Vorbereitung dieser Ausstellung habe ich den Lockdown nicht so sehr gespürt.

tipBerlin Haben Sie von Künstlerinnen generell gehört, die jetzt Schwierigkeiten haben, ihre Arbeiten zu verkaufen?

Anna Nezhnaya Darüber sprechen die meisten nicht. Wenn man sie fragt, wie es ihnen geht, lautet die Antwort normalerweise: Es geht gut, ich bin zufrieden. Und aus meiner Sicht ist es wirklich nicht so schlimm, in dieser Zeit ein Künstler, eine Künstlerin zu sein. Die Menschen brauchen jetzt etwas Schönheit in ihrem Leben, etwas Magisches, etwas, das ihnen einen neuen Impuls gibt.

„Manche Probleme sind die gleichen wie in Berlin“

tipBerlin Wenn Sie die Situationen von Künstlerinnen in Berlin mit denen ihrer Freundinnen und Kolleginnen in Moskau vergleichen: Worin bestehen jetzt in der Pandemie die größten Unterschiede?

Anna Nezhnaya Manche Probleme sind die gleichen wie in Berlin: viele Projekte sind abgesagt oder verschoben worden. Aber Moskauer Künstler und Künstlerinnen erhalten keine Unterstützung von der Regierung, wie wir sie hier in Berlin erhalten haben.

tipBerlin An Ihrer Ausstellung nehmen viele internationale Künstler*innen teil, die zeitweise in Berlin leben. Hängen sie mit den Reisebeschränkungen jetzt in der Stadt fest?

Anna Nezhnaya Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich kann nur von mir selbst erzählen: Bisher habe ich es nicht riskiert zu reisen. Und meine beiden Brüder leben in Israel und Russland, wo die Infektionsraten hoch sind. Sie müssten in Quarantäne, wenn sie nach Berlin kämen. Deshalb haben wir uns seit Februar nicht mehr gesehen.

tipBerlin Haben Sie während Ihrer Ausstellung etwas erlebt, das Ihnen einen Impuls gibt, weiterzumachen?

Anna Nezhnaya Absolut, ich würde gern „Portal II“ machen, und ich weiß auch schon, wo das stattfinden wird. Nicht in einem Schaufenster, aber wenn wir Glück haben, in einem Raum mit großen Fenstern.

  • Schau Fenster Lobeckstraße 30-35, Kreuzberg, Ausstellung „Portal“: rund um die Uhr, bis Anfang Januar 2021, dasarty.com/portal

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