Späte Ehrung: mit 80 Jahren hat Timm Ulrichs den Käthe-Kollwitz-Preis 2020 bekommen. Durch seine unangepassten, konzeptuellen Arbeiten jenseits des Kunstmarktes inspiriert er immer noch die junge Generation
Die Linguisten unter den konkreten Poeten seien furchtbar ängstlich, erklärt Timm Ulrichs; die bildenden Künstler dagegen gingen mit Sprache viel lässiger um. Es ist nicht schwer zu erraten, welcher Kategorie er zugehört. Und tatsächlich hat er beispielsweise die Worte „concrete poetry“ einfach in große Betonlettern gegossen, weil concrete auf Englisch diese Doppelbedeutung von konkret und Beton hat.Das ist wahnsinnig haptisch. Listig und auch ziemlich lustig.
In einer anderen Arbeit hat Ulrichs die Augenlid-Tätowierung von Hort H. Steckenbach in Samy’s Tattoo-Studio dokumentiert, „THE END“ steht riesengroß auf der Fotografie des geschlossenen Auges. Wie im Abspann eines Films. Oder wie ein Teil aus dem Satz „Ich bin der Anfang und das Ende“, zu finden in der Offenbarung des Johannes. Oder wie das Resultat der Geste, mit der man Toten die Augen schließt. Auch den biblischen Satz vom Ursprung der Welt als Sprache hat er einer materiellen und logischen Revision unterzogen. „AM ANFANG WAR DAS WORT AM“ steht da jetzt weiß auf schwarz. Als Schrift. Und als Bild. Und als…
Die berühmte Ansage von Jean-Luc Godard, dass Film die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde sei, hat Timm Ulrichs so umgesetzt: Ein Filmprojektor zeigt eine Sekunde lang das Wort KINO, dann werden die Lettern 24 Mal neu zusammengesetzt (mehr Permutationen der vier Buchstaben sind nicht möglich), und am Ende steht dann eine Sekunde lang das Wort IKON auf der Leinwand.
Timm Ulrichs, geboren 1940 in Berlin, studierter Architekt, ist das, was man einen artist’s artist nennt, also einen Künstler, der wahnsinnig tolle Sachen macht, dafür von seinen Kollegen bewundert wird, aber unter dem Radar der Öffentlichkeit läuft, weil seine Arbeiten extrem spröde und/oder ihrer Zeit voraus sind.
Das trifft ganz offensichtlich auf jemanden zu, der sich 1961 selbst „zum ersten lebenden Kunstwerk“ erklärte und sich dann in seiner „Selbstdarstellung“ (Werktitel) in einer Vitrine sitzend präsentierte – lange vor Marina Abramović. Der 1969 eine „Kunstpraxis (Sprechstunden nach Vereinbarung)“ gründete. Und der sich selbst, in Abwandlung des Goebbels-Zitats vom totalen Krieg, als „Total-Künstler“ bezeichnet hat. Wäre er nicht 1970 zum Professor ernannt worden und hätte damit sein finanzielles Auskommen gehabt, sein Leben wäre in Armut geendet, sagt er. Die prekäre finanzielle Lage vieler junger Künstler treibt ihn durchaus um.
„Weiter im Text“
Die Ausstellung mit dem lakonisch-ironischen Titel „Weiter im Text“, mit der ihn nun die Akademie der Künste ehrt, ist klein, vermittelt jedoch sehr kompakt, wie Ulrichs die Grenzen der Kunst zeitlebens hinterfragt und neue konzeptuelle Modelle für Kunst geschaffen hat. Da sind die drei Würfel aus Plexiglas, in jedem liegt ein altes Schreibmaschinenfarbband. Über 50 Jahre lang hat Ulrichs immer am 1. Januar ein neues Farbband in die von seiner Mutter geerbte Schreibmaschine Torpedo gespannt, sämtliche Texte des Jahres darauf geschrieben, das Farbband in einen Kasten gepackt und diesen mit „Literarisches Gesamtwerk“ samt Jahreszahl beschriftet. Lesbar sind die Bänder natürlich nicht, obwohl sich alle Lettern darin einst lesbar eingedrückt haben müssen.
Die Schreibmaschine Torpedo, erzählt Ulrichs, gehörte früher seiner Mutter, die als moderne Frau in den 20er Jahren den Beruf der Schreibmaschinistin erlernt hatte. Ulrich hat die Maschine fotografiert, die Buchstaben WERT samt runder Tasten ausgeschnitten und als Wort aufs Bild montiert. Er habe seine Mutter sehr geliebt, sagt er. Timm Ulrichs ist mit 80 Jahren ein Künstler zum Entdecken.
Akademie der Künste Hanseatenweg 10, Moabit, Di–Si 11–19 Uhr, bis 1.3., 5/ 3 €, bis 18 Jahre frei