Die Berliner Zwischennutzungsfirma Culterim macht aus Leerstand Kulturorte. Geschäftsführer Dennis Gegenfurtner hat einen ehemaligen Luftschutzbunker am Kaiserdamm in eine Spielwiese für Kreative verwandelt und Wohnungen im Haus obendrüber in Ateliers. Er vergibt sie zum Selbstkostenpreis. Auf diese Weise werden neue Kulturräume geschaffen, die für alle zugänglich sein sollen.
Ein Bällebad im Bunker: Culterim schafft Raum für interaktive Kunst
Rangelei im Bällebad, Spaß im interaktiven Kunstwerk: Statt Kleinkindern toben hier Ausstellungsbesucher:innen, nicht in einem Spieleparadies, sondern sechs Meter unter der Erde, in einem ehemaligen Luftschutzbunker mitten in Berlin. Weiße Farbe blättert von Steinwänden ab, am Ende des Klaustrophobie erweckenden Raumes scheint eine halbgeöffnete Stahlluke die Flucht anzubieten. An der Decke, an der man sich leicht den Kopf stoßen kann, hängt ein Kindheitsszenen-Gemälde von Björn Heyn, einem Berliner Künstler, der diesen Raum für die Ausstellung „+eins“ des zehnköpfigen Kunstvereins Studio Huette umgestaltet hat. In seiner farbenfrohen Verspieltheit nimmt das Bild „Birnen gibt es unten“ dem Untergrund seine Bedrohlichkeit.
Der ehemalige Luftschutzbunker liegt unter einem Altbau in Charlottenburg. Entstanden ist er nach dem Ersten Weltkrieg, im Zweiten fand hier die Nachbarschaft Schutz vor den Bomben. In Zeiten, in denen Menschen in der Ukraine unter der Erde Zuflucht suchen, nimmt das Konzept Bunker eine bedrückende Dimension an. „Als wir das alles geplant haben, hätte niemand von uns damit gerechnet, dass dieser Ort wieder einen solchen Beigeschmack erzeugen könnte“, sagt Dennis Gegenfurtner, Mitglied von Studio Huette und Gründer der Zwischennutzungsfirma Culterim.
In Berlin bieten die ehemaligen Schreckensorte seit Jahrzehnten Raum für Kreativität und freie Entfaltung. In den 1990er-Jahren entstanden in leerstehenden historischen Orten legendäre Techno-Clubs. So tobten im Bunker in Mitte die wildesten Partys. Menschen aus queeren und subkulturellen Szenen fanden hier einen Safe Space – und prägten die Inklusivität des Berliner Nachtlebens nachhaltig. Außerdem finden immer mehr Ausstellungen unter der Erde statt: etwa das Kunst-Event „Himmel unter Berlin“ in geheimen Kellergewölben.
Culterim-Gründer Gegenfurtner: „Gerade Berlin braucht Zwischennutzung für Kultur“
Der Luftschutzbunker am Kaiserdamm 102, in dem sich das wohl bestgeschützte Bällebad der Stadt befindet, war bis 2021 unter Mietwohnungen verborgen. Nur wenige wussten überhaupt von der Existenz des unterirdischen Labyrinths in Charlottenburg. „Als ich zum ersten Mal hier heruntergekommen bin, war mir einfach klar, dass hier Kunst stattfinden muss“, sagt Gegenfurtner, der in dem Bunker Ausstellungen veranstaltet. Der studierte Volkswirt und DJ schafft mit seiner im November 2021 gegründeten Firma Kunstflächen in leerstehenden Immobilien. Im Wohnhaus über dem Bunker verwaltet er mehrere Ateliers in unsanierten Wohnungen. Außerdem wandelt er aktuell einen alten Gutshof in Dahlewitz und ein Schloss in Biesenthal in Kulturflächen um.
Die Idee, Leerstand für Kunstbetrieb zu nutzen, geht auf ein Projekt von Studio Huette zurück, bei dem Kollektiv ist Gegenfurtner für die Organisation und Teile der Kuration zuständig. „Wir hatten hier in der Nähe einen Schrebergarten, in dem wir uns kreativ austoben konnten. Da haben wir gemerkt, was für eine inspirierende Wirkung außergewöhnliche Orte ausüben können“, erzählt er. Für ein Kunstfestival in der Schweiz rekonstruierten die Künstler:innen die Gartenlaube als mobiles Kunstwerk und schickten sie auf eine Reise durch Europa, die allerdings Corona-bedingt vorzeitig abgebrochen werden musste.
Auf dem leerstehenden Gutshof in Dahlewitz, sechs Kilometer südlich von Berlin, den die Immobilienfirma von Gegenfurtners Bruder verwaltet, fand die Kunsthütte ein Zuhause. „Wir haben uns da einquartiert und schon nach kurzer Zeit kamen die ersten Schaulustigen vorbei. Die ganze Nachbarschaft freute sich, dass sich dieser triste, verwahrloste Ort plötzlich wieder mit Leben füllte“, erzählt Gegenfurtner bei dem Treffen im Kaiserdamm-Bunker. „Da wurde mir klar, dass das keine einmalige Sache sein muss. Im Endeffekt profitieren von so einer Zwischennutzung ja alle.“
Die leerstehenden Gebäude bieten Kunstschaffenden eine Spielwiese für Kreativität, die Anwohner:innen freuen sich, dass aus dem Leerstand etwas Sinnvolles gemacht wird, und die Immobilien werden gleichzeitig durch Nutzung vor Vandalismus und Verfall geschützt, wovon wiederum die Eigentümer und Verwalter profitieren.
„Gerade Berlin braucht Zwischennutzung für Kultur“, sagt Gegenfurtner, „die meisten Ateliers sind unbezahlbar geworden, oder krasse Regularien und Richtlinien machen Künstler:innen das Leben schwer. Gleichzeitig gibt es hier so viele wunderbare Leute, die einfach Raum für ihre Kreativität benötigen.“
Zwischennutzung in Berlin: Ateliers zum Nebenkostenpreis
Mit seiner Firma Culterim steht Gegenfurtner im ständigen Kontakt mit privaten Immobilienfirmen und städtischen Wohnbaugesellschaften, um noch mehr Zwischennutzungskonzepte für leerstehende Flächen zu erarbeiten und somit Kunst und Kultur zu fördern. „Mir ist wichtig, dass die Räumlichkeiten offen für alle sind. Ich habe Bock, dass sich alles durchmischt: Lokale und internationale Studierende, professionelle Künstler:innen und auch Leute, die sich vorher nicht getraut haben, sich künstlerisch auszuleben.“
In den unsanierten Wohnungen über dem Bunker am Kaiserdamm 102 startete Gegenfurtner 2021 den ersten Durchlauf seines „Artist in Residence“-Programms. Für einen befristeten Zeitraum von drei bis sechs Monaten verteilt er die insgesamt 15, bis zu 50 Quadratmeter großen Räumlichkeiten an 16 Künstler:innen — und zwar mietfrei.
Lediglich eine Nebenkostenpauschale wird berechnet. „Nur ein kleiner Anteil davon ist für mich. Bei den Veranstaltungen trete ich als Galerist auf, vertreibe die Werke und kriege dafür Provision. Insgesamt ist das aber schon eine Non-Profit-Sache. Daher bin ich auch auf der Suche nach Förderungen, um dann vielleicht sogar auf die Nebenkostenpauschale verzichten zu können“, sagt Gegenfurtner. Momentan beantragt er mit seiner Firma staatliche und private Fördergelder. Parallel baut er eigenhändig den Dachboden am Kaiserdamm 102 aus, um dort Platz für 12 weitere Künstler:innen zu schaffen. Bewerben kann sich jede:r. Die Ausschreibungen werden über die Culterim-Website, Social-Media-Kanäle und E-Mail-Verteiler verbreitet.
Alle Künstler:innen der Kaiserdamm-Residencys erhalten auch Zugang zum dazugehörigen Luftschutzbunker, in dem Anfang März die Pilot-Ausstellung von Studio Huette stattfand. Ein voller Erfolg: Am Eröffnungswochenende besuchten rund 600 Menschen „+eins“. „Besonders schön war der Austausch zwischen Kunstschaffenden und Anwohner:innen. Zuerst war ich echt skeptisch, wie das aufgenommen wird, plötzlich stand aber die Nachbarschaft mit Wein vor der Tür und hat sich einfach gefreut, dass in ihrem Haus gute Kunst stattfindet. Viele von ihnen hatten den Bunker noch nie gesehen.“
Culterim Kaiserdamm: Ausstellung im Bunker vom 7. bis zum 10. April
Während der Ausstellung wurde der außergewöhnliche Standort selbst zum Kunstobjekt. Jeder Winkel des Bunkers stellte eine Leinwand für Projektionen, Gemälde, Skulpturen und Installationen von 27 Künstler:innen dar. Räume und Werke bedingten sich gegenseitig. So boten die sechs Meter hohen Wände im monumentalen Hauptraum Platz für überdimensionale Gemälde und zwei Zelte — in einem ließ sich eine experimentelle Klangkomposition erleben, das andere erweckte mit Projektoren den Eindruck, jemand würde sich in dem Zelt befinden. In einem engeren Raum tippte ein mit Mehl gefüllter Handschuh, der durch eine Bohrmaschinen-Seil-Konstruktion angetrieben wurde, auf einer alten Schreibmaschine herum. Die entstandenen Seiten füllten nach und nach alle Wände.
Vom 7. bis zum 10. April gibt es eine weitere Chance, Kunst im Bunker zu erleben, wenn die 16 Künstler:innen, die in den letzten Monaten am Kaiserdamm arbeiteten, ihre Werke in einer gemeinsamen Ausstellung präsentieren. Danach können dann neue Künstler:innen die dazugehörigen Ateliers beziehen. „Ich bin einfach glücklich, wie gut das alles angenommen wird und habe einfach Lust, das Projekt weiter auszubauen“, schwärmt Gegenfurtner.
Für die nächsten Monate hat er schon weitere Zwischennutzungskonzepte entwickelt: So sollen auf dem Gutshof Dahlewitz, wo die mobile Gartenlaube noch immer steht, ab April 15 Künstler:innen arbeiten und teilweise sogar wohnen können – für 150 Euro im Monat. „Dieser Ort schreit nach mehr. Ich plane, dort im Sommer Kunst- und Musikfestivals zu veranstalten. Generell würde ich neben der Kunst auch sehr gerne Musik fördern. Proberäume sind ja auch verdammt schwer zu bekommen”, sagt er.
Besonders freut sich Gegenfurtner auf ein Residence-Programm in Biesenthal: „Da ist so ein verrücktes Schloss, das zu einem Riesenhotel werden soll. Es dauert bestimmt noch drei Jahre, bis da alles genehmigt ist. Im Sommer kommt das also erstmal bei uns dazu.“ Mit einem breiten Grinsen zieht sich Dennis Gegenfurtner die Schuhe aus und steigt ins Bällebad.
- Culterim Gallery Kaiserdamm 102, Charlottenburg, Do 7.4.–So 10.4. weitere Informationen hier
- Studio Huette weitere Informationen hier
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