Before Sleep / After Drinking: In halbrealen Zwischenwelten erzählt Boris Mikhailov mit dokumentarischen Fotografien von der Selbstbehauptung des angeschlagenen Individuums. Zum 80. Geburtstag feiert C/O Berlin ihn mit einer großen Retrospektive
Die Sowjetunion war ein Staat, den man vor allem als grau in Erinnerung haben könnte. Grau waren die Gesichter der Parteibonzen, die bei Militärparaden von ihren wuchtigen Pelzmützen fast erdrückt wurden. Grau waren die Bilder von riesigen Fabriken, aus denen giftige Stoffe in die geschundene Natur sickerten. Grau ist nicht zuletzt das historische Image der Sowjetunion: ein Terrorregime, das sich zum Ende hin wenigstens ohne ein größeres Blutbad aus der Geschichte verabschiedet hat. Es gab aber natürlich auch eine andere Sowjetunion: Menschen hatten Freizeit, im Sommer schien die Sonne, der Geheimdienst bekam vieles, aber nicht alles mit.
Ein bedeutendes Dokument der verschiedenen Gesichter der Sowjetunion ist der Fotoband „Suzi et cetera“ von Boris Mikhailov. Er versammelt Aufnahmen aus den 1960er- Jahren, als auch im Ostblock die Freizügigkeit wuchs. Auf dem Titelbild sieht man eine Frau von hinten, eine gebräunte Blondine, die offensichtlich vom Baden kommt. Sie geht über einen Acker, im Hintergrund ist eine Stadt zu sehen. Der Hintern ist unbedeckt, die Bräunungslinien liegen frei, das Haar weht im Wind. Alles an diesem Bild ist beiläufig, und doch auf eine deutliche Weise bilderstürmerisch.
Im sozialistischen Realismus war die Erotik ganz in der Arbeit aufgegangen.
Im sozialistischen Realismus war die Erotik ganz in der Arbeit aufgegangen. Boris Mikhailov verschaffte ihr wieder Recht, er hielt damit das Individuum und dessen Körper gegen die offizielle Körperkultur des Staats mit seinen allgegenwärtigen Statuen, und er setzte Realismus, auch hässlichen, gegen die Beschönigungen der Ideologie. Im Grunde ist er diesen Ideen treu geblieben, nur hat seine Welt sich seither fundamental verändert – wenn C/O Berlin ihm nun zum 80. Geburtstag eine große Retrospektive unter dem Titel „Before Sleep/After Drinking“ widmet, dann bekommt man mit den rund 400 Fotografien auch eine Gelegenheit, sich noch einmal die grundsätzlich umstürzenden Ereignisse in Erinnerung zu rufen, von denen Mikhailovs Leben (und das seiner Generation) geprägt waren. Seine Geburtsstadt Kharkov gehört heute zur Ukraine, also zu einem Staat, der sich seit der Auflösung der Sowjetunion aus deren Schatten zu befreien versucht.
Seinen zweiten Wohnsitz hat Mikhailov in Berlin, er pendelt zwischen den Polen, zwischen denen die Ukraine ihren Weg sucht. Seine internationale Karriere stand im Zeichen einer Debatte, die sich vor allem um seine Serie „Case History“ entwickelte: 1997/98 fotografierte er in Kharkov die vielen Obdachlosen, die sich nicht in das Bild einer allmählichen Entwicklung zu Besseren in der postkommunistischen Welt fügen wollten. Zum Streitpunkt wurde vor allem, wie Mikhailov mit den „misérables“ umging: Er bildete sie nicht einfach ab, er wirkte selber mit, um einen anderen „Wahrheitsmoment“ als einen nur vorgefundenen zu finden. Der Vorwurf einer Inszenierung des Elends liegt nahe, geht aber in die Irre: Mikhailov führte mit seiner Serie letztendlich den Kampf gegen eine totalitäre Verfügung über die Individuen fort, nun mit den Menschen, die von der wirtschaftlichen Transformation nichts (mit) bekamen.
Der Begriff des „nackten Lebens“, den die politische Theorie damals gerade entwickelte, passt gut auf Mikhailovs Menschenbild: Er ruft zwar immer wieder große Bildtraditionen vor allem des Christentums auf, legt zugleich aber deren Kern frei, nämlich eine schockierende Fleischlichkeit.
Zwei Männer in Unterhosen und Socken, mit erhobenen Gläsern, wirken beinahe so, als würden sie sich auf Kommando besaufen, und eine Großaufnahme eines verwüsteten Gesichts, mit Zahnlücken im Zentrum eines grotesk aufgerissenen Mundes, zeigt dann schon die Folgen der trüben Tröstungen. Für sich genommen, wären manche dieser Fotografien zweifellos problematisch. Im historischen Zusammenhang aber sind sie von bezwingender Zeichenhaftigkeit. Nicht von ungefähr gab es vergleichbare Debatten wie die um Mikhailov vor allen in den 1990er-Jahren auch im Westen, zum Beispiel um den Briten Richard Billingham, gelegentlich auch auf dem Gebiet des Kinos, wo man gern von „kitchen sink realism“ sprach, also von einer Ästhetik von Umständen, die man gern über die Spülung entsorgen würde. England war die Probe auf den Neoliberalismus, den Russland und die Ukraine dann abbekamen.
In einem Bild aus seinem Diary (erschienen 2016) sieht man eine nackte Frau, die stehend in einen See uriniert.
Natürlich rührt Mikhailov häufig an Tabus, aber er kommt auch aus einer Gesellschaft, in der Tabus den Unterschied zwischen offizieller und tatsächlicher Geschichte zu vertuschen versuchten. Die sogenannte freie Marktwirtschaft brachte in der ehemaligen Sowjetunion die sozialen Verwüstungen hervor, von denen Mikhailov auch handelt – mit Körperbildern, die in ihrer Unmittelbarkeit immer zeichenhaft sind. Er hält aber auch die Traditionen lebendig, in denen die Sowjetunion Avantgarde war: In einem Bild aus seinem Diary (erschienen 2016) sieht man eine nackte Frau, die stehend in einen See uriniert. Ihr Strahl hat etwas Triumphierendes, denn sie hebt in diesem Moment einen natürlichen (anatomischen) Geschlechterunterschied auf. Von dieser Art sind die Utopien von Boris Mikhailov. Häufig bekommen sie ihre Energie aus einer Sexualität, die nichts zu tun hat mit dem sterilen Optimierungssex in der Konsumgesellschaft. Im weitesten Sinn des Wortes ist Boris Mikhailov der Fotograf einer Freikörperkultur in extremis – und damit vielleicht sogar auf eine utopische Weise noch immer Kommunist, nur eben niemals ein grauer.
Boris Mikhailov. Before Sleep / After Drinking C/O Berlin, Amerika Haus, Hardenbergstr. 22–24, Charlottenburg, 16.3.–1.6., tgl. 11–20 Uhr, 10/ erm. 6 €