Etwas zu vergessen, tut der Seele noch nicht weh, wohl aber die Erinnerung daran, etwas vergessen zu haben. „Wie hieß die Kneipe, in der ich vorgestern war?“, „Wo ist die Karte, auf der ich den Ort nicht wusste?“, „Wo ist das Verzeichnis der Nachbarn?“, schrieb Herr S. auf kleine Zettelchen, die von Merkzetteln immer mehr zu Verlustlisten wurden in seinem hartnäckigen Kampf gegen die größer werdenden Gedächtnislücken.
Die Sammlung seiner Notizen und Fragen ist, in einer langen Vitrine geordnet, ein äußerst berührendes Dokument der ganz alltäglichen Geschichte des Alterns, der die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst ihre Ausstellung „Ein Leben lang“ widmet. Heute ist es zwar einerseits üblich, das Bild der Gesellschaft nach Generationen aufgesplittert zu betrachten, dennoch wird der Blick auf das Altern vermieden. Für den amerikanischen Künstler John Coplans, 1920 geboren und damit der älteste in der Ausstellung, war der Blick auf die Veränderungen seines Körpers, von Füßen, Arsch und Händen, keine besondere Entscheidung mehr, hat er sich doch fast ein Leben lang mit dem fotografischen Selbstporträt beschäftigt.
Für Regine von Felten dagegen, 1980 geboren, und damit die jüngste Künstlerin des Projekts, ist das Thema eine bewusste Setzung. Sie hat ihre Großmutter im Altersheim besucht und erzählt in überzeichneten Fotografien, wie sich die alte Frau selbst abhandenkommt. Ihr Gesicht oder ihr Körper verschwinden unter dicken Lagen von Filzstiftstrichen, oder sie taucht als Strichfrau wieder auf, ohne sich zu erkennen. Die Angst vor dem Verlust ist aber nicht die einzige Farbe der Ausstellung. Daneben gibt es auch sehr gelassene und witzige Arbeiten, wie die langen biografischen Bögen, die Lenka Clayton & James Price durch alle Altersstufen ziehen, oder der Besuch von Peter Granser in „Sun City“, einer gated community der Senioren in Arizona (siehe Foto). Die Fröhlichkeit allerdings, die dort in täglichen Dosen von kleinen Events verordnet wird, ist dann doch gruseliger noch als der ganz normale Verfall.
Text: Katrin Bettina Müller
Ein Leben lang – Die Kunst des Alterns
Neue Gesellschaft für Bildende Kunst
tgl. 12-18.30 Uhr, bis 31.8.2008