Wir sehen das Brandenburger Tor, von dem die Rösser heruntergehievt werden. Abgekoppelt
von der Quadriga erinnern sie an ihre weniger staatstragenden Geschwister vom
Kirmeskarussell. Auf dem Foto danach liegt die Freundin Susan Sontag im Asphalt-Indianer-Outfit auf dem Berliner Hotelbett. Ein weiteres zeigt Notizen ihres Romanmanuskripts „The Volcano Lover“. Wir sehen die Eltern der Fotografin Annie Leibovitz selbstvergessen am Strand tanzen, beim Schäkern mit den Enkelkindern oder wie ihr Bruder Philip seinem Töchterchen Samantha zärtlich das Fläschchen reicht. Den beängstigend muskelgestählten Körper von Sylvester Stallone oder die makellose Cindy Crawford im Eva-Kostüm, lässig von einer Python umwickelt. Das smart wie selbstbewusst sich gerierende Kabinett von George W. Bush – und denjenigen Regisseur, der den US-Präsidenten in „Fahrenheit 9/11“ als prahlenden Schwadroneur vor einer Versammlung reicher Republikaner in Szene gesetzt hatte: also Kameramann Michael Moore, ebenfalls umgeben von seinem Team.
Wir sehen die sich in ihre Hüfte wiegende hochschwangere Fotografin, die ersten Aufnahmen ihrer blutverschmierten Tochter Sarah Cameron, die sie mit 51 Jahren zur Welt bringt. Und wir sehen den allmählichen Verfall des Vaters sowie ihrer Lebensgefährtin Susan Sontag – die Quälereien der Chemotherapie, ihre Auslieferung an Krankenhausschläuche, schließlich die Aufbahrung der einst betörend schönen femme de lettres mit aufgedunsenem Gesicht und kurz geschorenen weißen Haaren. Fast noch indiskreter als der Blick hinter die gewöhnlich sorgsam abgeschirmte
Spitalwelt erscheinen jene Momente, in denen die durch die Krankheit schwerfällig gewordene Sontag mit der kleinen Tochter Sarah am Strand buddelt. Oder als die Friseuse ihre legendäre Mähne mit der Silbersträhne während der Chemotherapie kappt.
Darf und soll man dies alles öffentlich zeigen? Die Glamourwelt öffentlicher Personen vermengen mit den allerintimsten Momenten der eigenen privaten Sphäre zwischen dem ersten und dem letzten Atemzug? Spannend wäre die Frage, wie die Porträtierte selbst die ungeschminkte Offenbarung ihres Verfalls bewertet hätte? In ihrem berühmten Essay „Über Fotografie“ konstatiert Sontag, dass diese in den letzten Jahrzehnten ebenso viel dazu beigetragen habe, unser Gewissen abzutöten, wie dazu, es aufzurütteln: „Nicht nur, dass wir uns an das fotografierte Grauen gewöhnen. Schlimmer noch: Wir genießen die gelungenen Fotos des Grauens als Bilder.“
Sontags Sohn David Rieff (56) ist davon überzeugt, dass Leibovitz’ Aufnahmen seine
Mutter „posthum erniedrigt“ hätten…
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Text: Martina Jammers
Foto: Annie Leibovitz
Annie Leibovitz
C/O Berlin im Postfuhramt, Tucholsky-, Ecke Oranienburger Straße, Mitte,
tgl. 11-20 Uhr, bis 20.5.2009