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Gallery Weekend 2020: „Memories of Now“ im Tacheles

Farbbeutel an einer Schnur, die in einem hellerleuchteten Holzgang von der Decke hängen. Einige sind aufgeschlitzt und tropfen auf den Boden. Der einzige Weg, der in die „Memories of now“-Ausstellung führt. Untermalt mit dem Puls der Stadt im Ohr – tropf, tropf, tropf – mystisch und vergänglich. „How long ist now“, ist nicht nur die Installation der italienischen Künstlerin Elisa Duca und der DJane Susanna Kim, sondern auch die Frage des ehemaligen Kunsthaus Tacheles.

Das Tacheles ist nicht nur eine Baustelle, anlässlich des Gallery Weekend Berlin, präsentiert die Pop-Up-Ausstellung "Memories of Now" Erinnerungen an eine andere Zeit.
Das Tacheles ist nicht nur eine Baustelle, anlässlich des Gallery Weekend Berlin, präsentiert die Pop-Up-Ausstellung „Memories of Now“ Erinnerungen an eine andere Zeit. Foto: Imago/ Emanuele Contini

Das Tacheles ist das künstlerische Gedächtnis Berlins. Ein Künstlerkollektiv rettete am 13. Februar 1990 den vom Krieg noch stehengebliebenen Rest eines ehemaligen Kaufhauses vor der Sprengung. Es folgte eine Ära von Lesungen, Konzerten, Ausstellungen und Performances. 2012 dann die Räumung – der Traum war aus. Vier Jahre später der erste Spatenstich, um eine neue, sehr andere Vision zu verfolgen. Eigentumswohnungen, Büroflächen und Läden sollen an der Oranienburger Straße das Kulturhaus ersetzen.

Dieses Wochenende öffnet die alte Kreativstätte nach acht Jahre ihre Pforten noch einmal für die Öffentlichkeit. Ein Ort voller Geschichte: Hier sollen einer anderen Zeit präsentiert werden.

Gallery Weekend 2020 im Tacheles

Die „Memories of Now“-Ausstellung erstreckt sich über einen Flur, zwei Räume und durch die Katakomben des alten Tacheles. Über einen Holzaufgang führt der Weg in die erste Etage. Dort ist es bunt und rau, es sieht aus wie ein Nachtclub bei Tageslicht, es erinnert ein bisschen an die Boros-Ausstellung im Berghain. Im Treppenhaus sind die Wände nackt, ohne Putz. Man steigt die breite Treppe herunter. Der Blick auf die maroden Wände im Erdgeschoss erregt Mitleid. Im ersten Ausstellungsraum ziehen dort weiße, glatte Wände mit großen schwarzen Rautenmustern die Aufmerksamkeit auf sich. Auf der gegenüberliegenden Seite: eine Lichtflut durch die Fensterfront zur Straße.

Die Konzentration fällt auf die ersten Kunstwerke: drei Bilder und eine Installation. Die Malerin Marion Fink arbeitet getreu nach dem Motto „Selbst ist die Frau“. Für ihre Monotypien, Originaldrucke, hat sie mit Ölfarbe Acrylglas bemalt, um das Resultat im zweiten Schritt mit ihrer eigenen Körperkraft auf das Papier zu pressen. Jedes Kunstwerk ist ein Unikat, das nicht wiederholt werden kann. So verdeutlicht sie die Vergänglichkeit des „Jetzt“, die Vergänglichkeit des Hauses.

Tatiana Echeverri Fernandez arbeitet anlässlich der "Memories of Now" mit Fahrbahnstreifen. Sie häutet die Straße wie eine Schlange, die ihre Vergangenheit hinter sich lässt.
Tatiana Echeverri Fernandez arbeitet anlässlich der „Memories of Now“ mit Fahrbahnstreifen. Sie häutet die Straße wie eine Schlange, die ihre Vergangenheit hinter sich lässt. Foto: Mariella Doblhofer

Dann kommt man in den nächsten Raum. An der ganzen Wand zieht sich ein Podest entlang, es sieht aus wie eine Sitzbank, aber darauf lehnt eine Autotür an der Wand. Darüber hängen die meisten Kunstwerke der Künstlerinnen an den weißen Wänden. Die Säulen im Raum sind glatt und schwarz angestrichen. Die einzige Tür im Raum erinnert an alte Zeiten. Sie öffnet die Tür in die Vergangenheit des Tacheles, die Katakomben. Ein Bildschirm zeigt einen 40-minütigen Film der Video-Künstlerin Antje Engelmann: eine Zusammenstellung mit autobiografischem Filmmaterial und neuen Aufnahmen aus einer Donau-schwäbischen Siedlung in Brasilien.

In einer der Katakomben ist Schaf aus Zucker installiert, eine Arbeit der iranischen Künstlerin Neda Saeedi. Auf einem Podest vor dreckigen und beschädigten weißen Fliesen hat sich das Schaf eines Panzers entledigt, ein überaus surreales Bild. Rein und unberührt strahlt das Zuckertier in dem heruntergekommen, dunklen Raum.

Neda Seeds Kunstwerk "Garden of eden moving a petrified tribe" ist ein Schaf aus Zucker, dass sich in den Katakomben des alten Tacheles versteckt.
Neda Seeds Kunstwerk „Garden of eden moving a petrified tribe“ ist ein Schaf aus Zucker, dass sich in den Katakomben des alten Tacheles versteckt. Foto: Mariella Doblhofer

„How long is now“ – die Geschichte des Tacheles ist vom „Jetzt“ geprägt. Revolutionen, die im Haus stattfanden, ein legendäres Kunstwerk an der Hausfassade, das weichen musste. „Memories of Now“ ist eine Anspielung auf dieses Fassaden-Kunstwerk.

Das einstige Kulturhaus verändert sich, wird saniert, die Mitte-übliche Mischung aus Wohnungen und Geschäften. Aber: „Das ehemalige Kunsthaus Tacheles war schon immer ein Ort der Kultur und wird es auch weiterhin bleiben. Auch nach der Sanierung soll hier Kunst stattfinden“, sagt Anke Luttert, Marketing-Chefin von pwr development, dem Bauprojektentwickler-Unternehmen des Tacheles.

Skulpturen Neda Saeedi auf schlichten Blöcken vor weißen Wänden in der „Memories of Now“ Ausstellung. Die Fensterfront entblößt die Grundmauern der alten Tacheles. Foto: Mariella Doblhofer

Heute stellen dort Künstlerinnen aus, deren Werke politische und gesellschaftliche Debatten auslösen. Barbara Green und Lorena Juan rücken mit ihrer Pop-up-Ausstellung das Thema „Women in Art“ in die Mitte des Diskurses der Gegenwart. „Memories of Now“ hinterfragt das Verständnis von Gegenwart und Zukunft. Das „Jetzt“ wird von den acht Künstlerinnen nicht mehr als Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft gesehen, vielmehr als Möglichkeitsraum interpretiert.

Memories of Now: Kann Kunst Erinnerungen bewahren?

Ein kleiner Ausschnitt von Beatriz Morales' Kunstwerk aus Agaven-Fasern, Jute, Baumwolle und Naturpigmenten im Tacheles.
Ein kleiner Ausschnitt von Beatriz Morales‘ Kunstwerk aus Agaven-Fasern, Jute, Baumwolle und Naturpigmenten im Tacheles. Foto: Mariella Doblhofer

Die mexikanische Malerin Beatriz Morales zum Beispiel beschäftigte sich mit der Identität und der Frage nach den Wurzeln. Für „Memories of Now“ hat sie ausschließlich mit Materialien aus ihrer Kindheit gearbeitet. Nach einem erinnerungsreichen Leben finden wir den Weg zurück in die Erde, wo die Wurzeln alles Leben sind, erklärt sie. Agaven Fasern, Jutesäcke, Baumwolle, Acryl und Naturpigmente bilden eine Textilkunst-Installation, die von der Decke bis auf den Boden reicht.

Die rein weiblich besetzte Gruppenausstellung „Memories of Now“ verfolgt das Ziel, Frauen in der Kunstwelt zu fördern. Die Biografien der internationalen Künstlerinnen sind genauso verschieden, wie ihre Interpretationen, Erinnerungen zu bewahren.

„Die Kraft, die diese Ausstellung haben wird, gilt es weiterzutragen“, sagt Luttert. „Memories of Now“ trifft die Ernsthaftigkeit des gesellschaftlichen Diskurses. Die Gestaltung von Erinnerungen, die wir in diesen Zeiten schaffen, wird zu unserer eigenen Geschichte. Welchen Anteil kann Kunst dabei haben, die Diversität von Erinnerungen zu bewahren? Dieser Frage stellen sich die internationalen Künstlerinnen. „Memories of Now“ ermöglicht einen Rundgang durch ein geschichtsträchtiges Gebäude, das seinen Besuchern die Geschichte seiner Künstlerinnen erzählt. Und stellt die Frage, ab wann das Jetzt zur Erinnerung wird. Beantworten muss sie jeder für sich selbst.

Öffnungszeiten und Programm

  • Am Tacheles, Oranienburger Straße 54, Mitte
  • Do 10.09., 19-23 Uhr, 20 Uhr Performance von Nasheeka Nedsreal
  • Fr 11.09., 11-17 Uhr
  • Sa 12.09., 11-19 Uhr, 16 Uhr Performance von Nasheeka Nedsreal
  • So 13.09., 11-19 Uhr

Die kostenlosen Zeitkarten sind ausschließlich online buchbar.


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