Endlich. Die weltweit gefragte Berliner Künstlerin Katharina Grosse hat hier erstmals eine institutionelle Einzelausstellung: Im Hamburger Bahnhof ist „It Wasn’t Us“ zu sehen. Ein starkes Statement zur Zeit, findet tipBerlin-Chefredakteurin Stefanie Dörre.
Die Große Halle des Hamburger Bahnhofs kann man jetzt auch von der Rückseite betreten. Von den drei großen Problemen des Hamburger Bahnhofs sind die Vorsichtsregeln aufgrund der Corona-Pandemie das kleinste. Viel gravierender ist die Frage: Wer wird die Nachfolge von Udo Kittelmann antreten, dem scheidenden Direktor der Nationalgalerie, unter deren Dach der Hamburger Bahnhof gehört? Noch ist jedenfalls kein Name öffentlich gemacht worden.
Für Kittelmann ist bereits Ende Oktober Schluss. Auf seinen eigenen Wunsch hin. Hinter den Kulissen soll ein Kampf zwischen konservativen und progressiven (für die Kittelmann steht) Museumsideen toben.
Und last but not least, wird der Hamburger Bahnhof die Leihgaben aus der Sammlung Flick und die Rieckhallen verlieren, im Oktober 2021 ist der Mietvertrag für das Gelände zu Ende und Friedrich Christian Flick zieht seine Kunstwerke aus Berlin ab. Ist Berlin zu doof für Kunstsammlungen?
Dieses Handtuch an Baugrund konnte sich die Stadt Berlin also nicht leisten, denkt man verärgert, wenn man hinter dem Hamburger Bahnhof steht und auf die langgestreckten, aber sehr schmalen Rieckhallen schaut. An ihrer Fassade hat sich kürzlich eine Farbexplosion ereignet. Katharina Grosse hat die Außenwände der Rieckhallen-Container und den geteerten Weg mit ihren schwingenden Farbschleifen angesprayt. Ein Statement voller Kraft. Aber wohl ein Abschiedsgeschenk.
Immer wiedererkennbar: die leuchtenden, kräftigen Grosse-Farben
Doch gehen wir noch mal ein paar Schritte zurück, wortwörtlich, und betreten wir die Ausstellung „It Wasn’t Us“ so, wie es gedacht ist, nehmen also den Haupteingang und gehen über ein paar Stufen hinunter in die Große Halle. Mächtig liegt die Stahl-Glas-Konstruktion da – ab 1846 fuhren hier Züge – und kündet immer noch vom optimistischen Aufbruch ins Industriezeitalter.
Und ganz hinten in der Halle scheint sich jetzt eine Art Gebirgsmassiv zu erheben, ein Eisberg oder vielleicht doch eher ein futuristisches Gefährt? Geht man weiter, gleitet man langsam in das Gemälde hinein. Denn auf dem (präparierten) Boden gibt es erste Farbspuren, die typischen, kräftig leuchtenden Grosse-Farben, immer wiedererkennbar.
Wir dürfen auf dem Gemälde laufen, gehen weiter, hinweg über die vielen faszinierenden bunten Farbspuren, die Katharina Grosse mit ihrer Pistole aufgetragen hat, in vielen übereinanderliegenden Schichten. Wahnsinnig viele Layer, und dennoch hat man das Gefühl, da ist jedes Farbpigment an seinem Platz, da gibt es keinen Zufall, sondern eine Energiequelle, die alles zusammenführt.
Katharina Grosse begreift ihre Arbeiten als Malerei
Eine großartige Blickführung, die Grosse da für uns Besucher*innen inszeniert hat. Die Augen gleiten auf dem Boden entlang, man geht weiter, bis man plötzlich vor der hoch aufragenden bizarren Formation steht, die so aus der Nähe betrachtet gar nicht mehr klein, sondern riesengroß ist. Und auch nicht mehr so massiv.
Die aus Polystyrol bestehenden skulpturalen Elemente hat Grosse tagelang mit Hilfe eines heißen Drahtes so bearbeitet, dass Furchen, Einkerbungen und feinste Rillen entstanden. Da war die Konstruktion noch weiß. Danach hat sie, wieder über Tage, auf Objekten und Boden Schicht für Schicht ihre dynamischen Farbbänder gesprayt. Gemalt. Denn Grosse begreift ihre Arbeiten als Malerei, trotz der installativen Aspekte.
Dynamische Aufbruchstimmung
Das bearbeitete Polystyrol wirkt hart und fragil zugleich, wie rasiermesserscharf abgebrochene Felsen oder Eisblöcke. Das verbindet die Arbeit genial mit den gusseisernen Bögen und dem Glas, die die Architektur der Halle ausmachen.
Sogar die dynamische Aufbruchsstimmung, die darin auch nach 150 Jahren noch herrscht, kann Grosse erneut entstehen lassen. Und dabei gleichzeitig, auch wenn sich das jetzt verrückt anhört, drei ikonische Gemälde von Caspar David Friedrich ins Gedächtnis rufen: seine „Kreidefelsen auf Rügen“, das „Felsenriff am Meeresstrand“ und vor allem „Das Eismeer“.
Katharina Grosse kennt keine Grenzen
Das rückseitige Tor des Hamburger Bahnhofs steht für diese Ausstellung offen, die Arbeit setzt sich gleitend nach draußen fort. „Die Malerei von Katharina Grosse kennt keine Grenzen und verbindet übergangslos den Innen- und Außenraum. Wir freuen uns sehr, dass die Besucher*innen die Halle und den Platz hinter dem Museum als Imaginations- und Möglichkeitsraum der Kunst neu erfahren können“, sagt Gabriele Knapstein und ist sichtlich froh, dass „It Wasn’t Us“ nun endlich, mit Pandemie-Verspätung, eröffnen konnte. Die Leiterin des Hamburger Bahnhofs hat die Ausstellung gemeinsam mit Udo Kittelmann kuratiert.
Es ist tatsächlich die erste Einzelausstellung von Katharina Grosse, die in Berlin lebt und arbeitet, eine weltweit gefragte Künstlerin ist, Teilnehmerin der Biennale von Venedig, Professorin. Wurde auch Zeit.
Ein starkes Statement, auch wenn Katharina Grosses Arbeit wieder verschwinden wird
Grosse hat schon auf Bäumen, Sand und Häuserruinen gemalt. Auch ihre Arbeit im Hamburger Bahnhof wird verschwinden. Das soll so sein. Es lohnt sich, hinter der Halle noch einen Blick auf Urs Fischers Ruineninstallation „Kann auch zerfallen“ zu werfen. Fischer ist lakonisch. Grosse dagegen kämpferisch. Komm doch, Zukunft, wir sind bereit. Ein starkes Statement zur Zeit.
- Hamburger Bahnhof Invalidenstr. 50-51, Tiergarten, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa+So 11–18 Uhr, 10/ erm. 5 €, nur mit Zeitfensterticket, buchbar unter www.smb.museum/tickets, bis 10.1.21
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