In ihrer neuen Ausstellung „We Felt A Star Dying“ im Kraftwerk erforscht die Turner-Preis-gekrönte Künstlerin Laure Prouvost eine der komplexesten Disziplinen der modernen Wissenschaft: die Quantenphysik.

Mit ihrem verspielten Umgang mit Sprache und Erzählungen mag Laure Prouvost auf den ersten Blick nicht die naheliegende Wahl sein, um sich mit einem so komplexen Thema wie Quantencomputing auseinanderzusetzen. Doch ihre sinnlich reichen, immersiven Installationen, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischen, könnten genau das sein, was uns hilft, diese bald weltverändernde Technologie zu begreifen. Die gefeierte französische Künstlerin – Gewinnerin des Turner-Preises 2013 – besitzt die seltene Fähigkeit, ihr Publikum auf eine Weise zu bewegen, die sich nur wenige zutrauen. Ihre Stärke liegt in ihrem unerschütterlichen Engagement für die verspielten, oft rätselhaften Welten, die sie erschafft – Welten, die ebenso bezaubernd wie zutiefst verwirrend sind.
Ihr neuestes Projekt „We Felt A Star Dying“ – entstanden in Zusammenarbeit mit dem Philosophen Tobias Rees und dem Wissenschaftler Hartmut Neven sowie in Partnerschaft mit der LAS Art Foundation – markiert ein Jahrhundert Quantenphysik. Die ambitionierte Installation, die im Kraftwerk Berlin präsentiert wird, greift die Unvorhersehbarkeit quantenphysikalischer Phänomene auf und regt eine Diskussion über das herannahende Quantenzeitalter an. Wir haben mit Prouvost über den inhärenten Wahnsinn der Quantenphysik gesprochen – und darüber, wie wir, genau wie Atome, alle miteinander verbunden sind.
Laure Prouvost: „Quantenphänomene begegnen uns täglich, wir sind uns dessen nur nicht bewusst“
tipBerlin Das Kraftwerk ist ein gewaltiger Raum. Gab es Bedenken, sich dieser ehemaligen Energiezentrale zu stellen?
Laure Prouvost Nun, ich hatte ein paar Jahre Zeit, daran zu arbeiten! Aber das Ausmaß ist so riesig, dass ich mit meinen kleinen Händen einfach nicht genug tun kann – ich brauche viele Mitwirkende.
tipBerlin Sie haben darüber gesprochen, dass Sie mit diesem Projekt eine Vorstellung davon vermitteln wollen, wie es sich anfühlen könnte, die Realität aus einer Quantenperspektive wahrzunehmen. Wie verstehen Sie diese Realität?
Laure Prouvost Quantenphänomene begegnen uns täglich, wir sind uns dessen nur nicht bewusst. Ich glaube nicht, dass ich es jemals vollständig verstehen werde, aber ich erfasse es auf einer sinnlichen Ebene. Ich meine, die meisten Künstler beschäftigen sich damit, ohne es zu wissen. Und genau das war eine der Herausforderungen für mich: Wie artikuliere ich das? Müssen wir illustrativ sein? Es ist ziemlich knifflig.
tipBerlin Ist es von Vorteil, es nicht vollständig zu verstehen?
Laure Prouvost Ich will keine Wissenschaftlerin sein. Sonst wäre ich eine. Ich bin Künstlerin, und als Künstlerin benutze ich andere Ausdrucksformen, um Dinge zu vermitteln. Das ist die Kraft der Kunst, der Musik und der Worte – sie können dich auf neue Wege des Fühlens oder Verstehens führen.
tipBerlin Einer der faszinierendsten Aspekte der Quantenphysik ist, dass sie eine Realität beschreibt, die gleichzeitig nicht ganz existiert und doch vollständig verbunden ist – das erinnert mich an Ihre künstlerische Praxis, die ständig nach Verbindungen zwischen allem sucht: Menschen, Natur und allen Facetten des Lebens…
Quantenphysik ist irgendwie verrückt, weil sie der Idee von Gott sehr nahekommt. Sie war beim Urknall da, eine spirituelle Entität, von Anfang an
Laure Prouvost
Laure Prouvost Als LAS mich einlud, kannten sie meine Arbeit und mein Projekt für die Venedig-Biennale, das die Form eines riesigen Oktopus annahm – jeder Tentakel spürte den anderen, der Fokus verlagerte sich vom Gehirn zum Körper, um die Welt durch Geruch, Geschmack und Berührung wahrzunehmen. Können wir uns, selbst in unseren Gedanken, in das Wasser eines Flusses verwandeln? Es gibt viel zu erfassen, fast überwältigend! Aber man muss es mit Humor angehen und sich bewusst sein, dass es da ist – bereit, erkundet zu werden.
tipBerlin Wir hatten einfach nicht die Fähigkeit, es zu verstehen…
Laure Prouvost Quantenphysik ist irgendwie verrückt, weil sie der Idee von Gott sehr nahekommt. Sie war beim Urknall da, eine spirituelle Entität, von Anfang an. Ich möchte, dass meine Installation ein Stück weit in diesen Zustand zurückkehrt, ins Winzige, ins Mikroskopische. Ich möchte unser menschliches Gehirn ein Stück weiter treiben, unsere Bewusstseinsgrenzen öffnen.
tipBerlin Der Ausstellungstext berührt das Thema Quantencomputing, insbesondere seine Rolle in der Verschlüsselung und Datensicherheit. Zeigt diese rein praktische Betrachtung die Grenzen menschlichen Ehrgeizes auf? Während Sie als Künstlerin das kreative Potenzial erforschen können…
Laure Prouvost Ja, obwohl ich nicht sicher bin, ob das, was ich tue, besonders nützlich ist. Quantencomputing dreht sich um Mathematik und Geschwindigkeit – aber ich bin glücklich, Dinge zu verlangsamen. Ich finde, es gibt eine Schönheit darin, transzendente Emotionen auf eine Weise hervorzurufen, die nicht unbedingt immer praktisch ist.
tipBerlin Wir haben lange in einer newtonschen, regelbasierten Realität gelebt, aber jetzt stehen wir am Rande eines tiefgreifenden Wandels in unserer Weltsicht…
Laure Prouvost Für Menschen zumindest. Aber für den Moment sind Quantenmaschinen noch nicht wirklich nützlich. Ein Computer kann meine Bilder oder Videos verarbeiten, aber viel mehr kann er derzeit nicht. Unsere newtonsche Sicht auf die Welt war im Wesentlichen mechanistisch, während die Quantenwelt vernetzter und weniger klassisch ist. Zum Beispiel in der Technologie – mit Speicher: Quantencomputer werden in der Lage sein, Daten auf eine winzige Größe zu komprimieren und dann wieder riesig zu entfalten. Es ist wie ein Gedächtnis. Du speicherst es in deinem Kopf, aber es nimmt nicht dein ganzes Gehirn ein. Und wenn du es mit einem Freund abrufst, ist es Puff! – „Ich erinnere mich!“ Dann kommt alles wieder hoch. Vielleicht kommt auch ein Geruch zurück, den sonst niemand mehr wahrnimmt – aber wenn man alles zusammenfügt, wächst es. Es ist ein bisschen magisch, voller Verbindung und Interaktion.
tipBerlin Das Herzstück des Projekts ist die Installation „The Beginning“, die beeindruckend über dem Hauptbereich schwebt. Sie hat fast eine oktopusartige Vernetzung…
Laure Prouvost Ja, ich werde oft unter Wasser gezogen. Wie der Anfang des Lebens auf der Erde, wo Wasser die Biodiversität ermöglichte. Eine unserer Schlüsseldiskussionen war, dass es in quantenphysikalischen Begriffen kein „du“ mehr gibt – es ist „wir“. Meine Arbeit hat oft „du“ verwendet. Aber hier ist es „wir“, eine gemeinsame Präsenz. Und mit „The Beginning“ erschaffen wir Quantenhaftigkeit in einer skulpturalen Form. Ist es eine Blume? Eine Pflanze? Ein schwebendes Wesen, über oder unter uns? Die quantenartige Qualität der Skulptur bedeutet, dass sie erscheint und verschwindet, präsent und doch schwer fassbar ist – mit einer illusionären, fast magischen Qualität.
tipBerlin Wollen Sie, dass es eine immersive Erfahrung wird?
Laure Prouvost Ich arbeite oft so, dass Besucher zu Protagonisten werden. Dass du selbst eines der Qubits bist – nein, noch besser, wir sind eines der Qubits. Man muss nicht teilnehmen, aber wenn man möchte, kann man in das Spiel eintreten. In einem meiner frühen Videos hieß es: „Sitzt du auf einem Stuhl mit Oma? Möchtest du Tee oder Kaffee?“ Man wurde eingeladen, Teil der Geschichte zu werden. Und hier, in diesem riesigen Raum, arbeiten wir wieder in einer großen Dimension. Vielleicht fühlt man sich wie ein winziges Qubit – und manchmal ist es mächtig, sich klein zu fühlen.
- Kraftwerk Berlin Köpenicker Str. 70, Mitte, Di–Fr 15–21 Uhr, Sa+So 12–20, 12/ 8 €, bis 4.5., Mehr Infos
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