Ein dick eingemummeltes Kind schiebt ein kleineres, noch besser verpacktes im Schlitten. Unwillkürlich denkt man an unendlich lange russische Winter. Und an die träumerischen und verletzten Seelen von Tschechow oder Turgenjew. Die 160 Fotografien der Ausstellung „Stiller Widerstand. Russischer Piktorialismus 1900 – 1930“ erinnern nicht von ungefähr an Gemälde. Sie reihen sich ein in diese Stilrichtung, die Edward Steichen und Heinrich Kühn um 1900 kultiviert hatten. Diese versuchten damit dem Vorurteil zu begegnen, dass Fotografieren nichts anderes bedeute, als seelenlos den Auslöser zu bedienen. Doch während die große Zeit des Piktorialismus im Westen nach dem Ersten Weltkrieg vorbei war, gedieh diese Richtung in Sowjetrussland bis in die 1930er-Jahre. Sie avancierte geradezu zur Visitenkarte des Arbeiter-und-Bauern-Staates, wurde auf internationalen Fotoausstellungen in Europa und den USA mit Medaillen überhäuft. Verblüffenderweise werden wir nicht mit der hochgerüsteten Welt der Technik konfrontiert, sondern mit der „Mäherin“ von Nikolai Andreev, die in ihrer weich gezeichneten Art direkt von einem Renoir-Gemälde in die russische Tundra gefallen sein könnte. Mithilfe komplizierter Gummidrucktechniken und grobkörnigem Filmmaterial wurden diese Effekte erzielt. Es ist, als sei die Zeit angehalten. Ein Ausflug in sepiafarbene Tolstoi-Gefilde, die viel verraten von der Sehnsucht eines gebeutelten Volkes.
Text: Martina Jammers
tip-Bewertung: Sehenswert
Stiller Widerstand. Russischer Piktorialismus 1900 – 1930 Martin-Gropius-Bau, bis 18.12.2011