Meine Provinzheimat kannte genau einen Park. Der lag zentral zwischen der historischen Stadtmauer und der Gesamtschule, zwischen der alten und der etwas neueren Stadt. Es gab ein paar Bänke, Rhododendrenbüsche und einen Teich mit einer Fontäne. Am Sonntag schritten der Arzt, der Schulleiter, der Bürgermeister und der Bauunternehmer die sauber geharkten Wege entlang. Und wenn sie sich begegneten, damals in den frühen Achtzigerjahren, lüfteten sie die Hüte.
Der Park meiner Provinzheimat nannte sich stolz Bürgerpark. Und ich verstand intuitiv, was damit gemeint war, wenngleich uns Kinder der Park eh nie sonderlich interessierte. Wir spielten in den Feldern, den Wäldern, auf dem ehemaligen Kasernengelände. Im Park war Spielen nicht erwünscht. Und vor allem: nicht vorgesehen.
Im Park am Gleisdreieck ist das Spiel quasi Pflicht. Selbst wenn man ihn eigentlich nur flink durchqueren will, diesen eben noch toten Flecken im Herzen der Stadt, man kommt doch nicht umhin, mit dem Fahrrad einen der in die ebene Fläche hineinmodulierten Hügel mitzunehmen. Oder, als Fußgänger, kurz auf dem im Boden eingelassenen Trampolin zu springen, auf dem Holzbalken zu balancieren und eines der wetterfesten Freiluftfitnessgeräte auszuprobieren.
Seniorenspielplatz nennt sich dieser Teilaspekt des Parks. Das klingt despektierlich und meint doch das genaue Gegenteil. Die Stadtgesellschaft wird älter und sie wird aktiver. Der 2013 eröffnete und in diesem Jahr mit dem deutschen Landschaftsarchitekturpreis ausgezeichnete Park am Gleisdreieck weiß beiden Entwicklungen mit attraktiven Angeboten zu begegnen. Dieser Park ist immer noch ein Fluchtpunkt, eine Ruhezone. Genauso aber ist er ein lebendiger, manchmal hyperaktiver Teil der Stadtkultur.
2?500 Parks oder parkähnliche Grünanlagen gibt es in Berlin. In Worten: zweieinhalbtausend. Zusammengerechnet ergeben sie eine Fläche von etwas mehr als 60 Quadratkilometern. Mehr innerstädtisches Grün gibt es in keiner anderen europäischen Metropole. Vermutlich auch keiner anderen der Welt. Niemand, der in fünfminütiger Bummeldistanz nicht mindestens einen Park vor der Haustür hätte.
Große und riesengroße Parkanlagen sind darunter. Der Große Tiergarten (210 Hektar), die Wuhlheide (120 Hektar) und – aber ist das denn überhaupt ein Park? – das Tempelhofer Feld (365 Hektar). Und kleine Nachbarschaftsparks. Teilweise, wie der als Anwohnerinitiative gepflegte und gehegte Krausnickpark an der Oranienstraße in Mitte, sogar im Wortsinne.
Apropos: Neu, zumindest relativ neu ist diese Vereinnahmung der Parkanlagen als persönliches Anliegen und persönliche Liegenschaft. Man besucht den Park eben nicht mehr, wie noch in der Spaziergangskultur der Nachkriegsmoderne. Man hat sich in ihm eingelebt.
Parkgestaltung, die räumliche und die ideologische, war immer ein Spiegel ihrer Zeit. In den Berliner Parks formieren sich Geistesströmungen zu gestaltetem Stadtraum. Die spätromantische Naturbegeisterung des 19. Jahrhunderts sprudelt als quasi alpiner Wasserfall durch den Viktoriapark. Und in der ziemlich leeren Weite des Mauerparks spiegelt sich die Attitüde einer Do-it-yourself-Stadt der Postwendejahre. Eigentlich, so wirkt es noch immer, sollte auch ein Park nichts anderes als eine jener Brachen sein, in denen sich die Stadt in den Neunzigerjahren so wunderbar selbst organisiert hatte. Einzig den Müll mussten andere wegtragen.
Zwischendurch, auch dieses Bild kennen wir von typischen Berliner Grünanlagen, erzählen rechtwinklig gezogene Rasenflächen, von wadenhohem Gusseisen eingerahmt, von zu öffentlichem Grün geronnenen preußischen Sekundärtugenden. Das eingepferchte Grün – im Volkspark Wilmersdorf lässt sich dieses Motiv noch an einigen Ecken finden.„Löwenzahn“ lief ab 1981 im Fernsehen. Die Grünen gründeten sich im Jahr zuvor. Man versteht schnell, dass die gesellschaftlichen Emanzipationsprozesse des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts eben auch eine Emanzipation der Stadtnatur, ja, des Naturbegriffs im Generellen zum Thema hatten.
Vor allem aber scheint diese Neubesinnung, die Sehnsucht nach dem wilden Wuchs und seiner Kultivierung durch urbane Gärtner, ein großes Thema des noch jungen 21. Jahrhunderts. Karohemden, Funktionsjacken, griffige Turnschuhsohlen sowieso, selbst der urbane Look scheint heute permanent für den Ausflug ins Grüne präpariert.
Draußen ist also das neue Drinnen. Das bezeichnet die Stadtsoziologie entweder als „Mediterranisierung des Stadtraums“ oder als das „veröffentlichte Ich“. Der spätmoderne Mensch macht sich nackig – und das mindestens im übertragenen Sinn. Sei es bei Facebook oder eben im Flaschenhalspark. Er verlagert das ehedem Private eben in den öffentlichen Raum.
Das Treffen mit Freunden, die Lektüre und mitunter das Schreiben eines Buches, sogar Geschäftstermine, der Sport in all seinen Facetten sowieso – all das findet längst auch und vor allem in den Parks Berlins statt. Seit uns das Smartphone mit dem weltweiten Netz verbindet, sowieso. Die Parkwege werden zum Catwalk, nicht nur für ausgewilderte Hauskatzen und die übrigen tierischen Bewohner der Stadtnatur.
Und noch etwas ist der Park: umsonst und draußen, was seine Platzierung in einem zunehmend durchökonomisierten Stadtraum noch einmal pointiert. Parks sind Orte, die sich alle leisten können, was hier zu Begegnungen und dort zu Konflikten führt. Der Görlitzer Park muss da als schlechtestes Beipiel herhalten. Ein anderer Kreuzberger Park, die Hasenheide, um das leidige Thema der Drogenparks nur kurz zu streifen, hat die Kurve hingegen gekriegt. Das aber war weniger der Verdienst einer repressiven Politik als einer Aufwertung der Aufenthaltsqualitäten.
„Berliner schaffen Kontakte durch Konflikte“, hat Tim Renner gerade irgendwo gesagt. So einfach ist es nicht. Und doch zeigt sich in den Berliner Parklandschaften eindrücklich, wie das Leben in einer Millionenmetropole mehr als nur funktionieren kann. Ein Tag im Park erzählt vom Glück, in Berlin zu sein. Alles im grünen Bereich.
Text: Clemens Niedenthal
Fotos: Erik Heier, Constantin Weeg