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Ost-Debatte in der Literatur

Anne Rabe und ihr aufwühlender Debütroman: Das dunkle Herz der DDR

Anne Rabe erzählt in ihrem Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ eine Geschichte vom Aufwachsen im Nachwende-Osten, die auch viel mit Gewalt in der DDR-Gesellschaft zu tun hat. Und so ganz anders ist als der viel diskutierte Wut-Bestseller von Dirk Oschmann. Wir trafen die Autorin in Berlin.

Anne Rabe wurde 1986 in Wismar geboren und zog nach dem Abitur nach Berlin. Foto: Annette Hauschild

Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“: Autobiografisch grundierter Roman über den Osten

Wieder so ein Bücherfrühling, in dem man feststellen kann, dass der deutsche Osten als literarische Sonderbewirtschaftungszone immer noch einiges hergibt. Wobei es in den aufsehenerregenden Büchern zuletzt vor allem um die Transformationsschadensbilanz nach der Wiedervereinigung ging: „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels, „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz oder „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen sind da gute Beispiele.

Arbeitslosigkeit und ABM. Treuhand und Traumata. Betriebsschließungen und Baseballschlägerjahre. Konsum und Chaos: Dauerbrenner der deutschen Literatur.

Auch wenn nun der erste Roman der 1986 in Wismar geborenen Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin Anne Rabe gleichfalls seine Gegenwartsebene, die Erzählperspektive ihrer Hauptfigur Stine, im deutschen Osten nach der Wende sucht, reicht diese autobiografisch inspirierte Familiengeschichte auch weit in die Vergangenheit zurück.

Als wir uns am Savignyplatz in einem Café zum Gespräch treffen, sagt Anne Rabe: „Es ist ein großer Fehler, dass die DDR immer nur von ihrem Ende her erzählt wird.“

Sätze zum Mitschreiben, Sätze, die man laut singen sollte

„Die Möglichkeit von Glück“ ist zum einen ein, ja genau: Glücksfall von einem Roman. Zum einen natürlich schon deshalb, weil Anne Rabe darin mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit so verdammt viele sensationelle Sätze raushaut. Sätze zum Mitschreiben, zum Auswendiglernen. Sätze, die man laut singen sollte.

Zum Beispiel, als Stine, ihrer beklemmenden Heimatkleinstadt an der Küste gen Berlin entflohen, in ihrer Stammkneipe sinniert: „Wir sind ja vom selben Stern in diese Stadt gefallen, und ich weiß, wie weit der Weg ist und wie kalt das All sein kann.“

Vor allem aber ist ihr Debüt deshalb so besonders, weil es sich der oft üblichen dichotomen Ost-Erzählung von Schuld und Sühne verweigert. Wo dann entweder der bevorzugt sächselnde Stasi-Mann im beigen Blouson das Böse mimt. Oder der grundgierige Wessi sich in blass blühenden Landschaften aufführt wie die Axt im Finsterwalde.

Als Dirk Oschmann in die Drüben-Debatte reinpolterte

In diesem Frühjahr platzte zum Beispiel dem Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann unter regem bis verdattertem Interesse der Feuilletons und Talkshows der Kragen, als er mit „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ in die Drüben-Debatte reinpolterte. Es wurde ein „Spiegel“-Bestseller.

Darin machte Oschmann den ostdeutschen Mann der Jahrgänge 1945 bis 1975, bekannt aus den Medien durch Pediga, AfD, Impfwut (der zu jener Generation DDR gehörende Autor dieses Textes reibt sich hier verwundert die Augen) als eine der nach 1989 am meisten ausgegrenzte wie ausgelachte Bevölkerungsgruppe aus: „eine dreißigjährige Geschichte individueller Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung“.

Und nicht nur „Zonen-Gaby“ schaut betreten von ihrer ersten Banane hoch. Grüße auch an die „Titanic“.

Anne Rabes Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“: Dieses Knacken im Hinterkopf

Anne Rabes Hauptfigur Stine, auch Jahrgang 1986, geboren in einer Kleinstadt an der Ostsee, ist das jüngste Glied „einer langen Kette unglücklicher Umstände, die meine Familie werden sollte“. Wie Opa Paul, den sie vergeblich auf alten Fotos in den Schützengräben von Stalingrad sucht, der in der DDR mit Staats-Auszeichnungen überhäuft wird und die Schüsse an der Mauer gutheißt. 

Die Mutter: eine harte Frau, die Stine (und ihren Bruder) schlägt, mit wochenlangem Schweigen straft, im Badewasser verbrüht, ihr, weil sie früh schwanger wird, Geld fürs Studium in Berlin streicht. Der Vater, der es zuließ, stumm zustimmend. Und am Tisch ständig diese Kopfnüsse: „Dieses Knacken im Hinterkopf. Ich kann es bis heute hören.“

Überhaupt: Gewalt. Das ist eines der sich durchziehenden Themen im Buch. Gewalt in der Familie, unter den Jugendlichen, gegen die vietnamesische Mitschülerin, in der DDR-Erziehungsdiktatur. Wer ausscherte, dem drohte der Jugendwerkhof. Mindestens.

Die rohe Gewalt der Baseballschlägerjahre, wie Christian Bangel („Zeit“) sie taufte, sie kam nicht aus dem Nichts und nicht aus dem Westen. Sie war längst im System.

Aus der Schamwelle, die Stine stets erfasst, wenn sie von den DDR-Dunkelorten hört – Hohenschönhausen, Torgau –, will sie sich herausarbeiten, indem sie alles über jenes Unrecht liest, das sie nicht erlitten hat. „Ich fühle mich dennoch schuldig, sodass ich mich noch nie hineingetraut habe in das dunkle Herz der DDR. Ich bin jedes Mal vorher abgebogen.“

Jetzt treibt sie sich selbst mitten ins Herz hinein.

Mythen des Ostens, nach der Wende entstanden

Mit 19 Jahren, direkt nach dem Abitur, zog Anne Rabe mit ihrem Mann nach Berlin. Sie studierte Szenisches Schreiben, begann Drehbücher für Serien zu schreiben.

Bis zur Pandemie sang sie in ihrer Chanson-Band namens Lauter schöne Frauen, schrieb aus reiner Freude, als Harald Welzer und Richard David Precht einen denkwürdig breitbeinigen Talkshow-Auftritt hatten, auf Twitter das medienkritische Drama „LANZ – Halbgott des Gemetzels“ und ist als SPD-Mitglied nicht sehr glücklich über Franziska Giffeys Crush mit Kai Wegner, der bekanntlich jetzt Berlin regieren soll oder darf.

Man kann mit Anne Rabe lange reden über Ost-Mythen, die sich erst nach der Wende, in der Rückschau Ost, verbreiteten. Wie die „Selbsterzählung von der Solidarität in der Diktatur“, wo doch viele in Angst lebten, dass der Nachbar die Stasi rief, wenn man Westbesuch empfing. Oder der Mythos der voll emanzipierten DDR-Frau: „Ja, es gab mehr Erwerbstätigkeit der Frauen, mehr Ausbildungsmöglichkeiten. Aber es gab zum Beispiel keine Emanzipation in dem Sinne, dass man auch über Gewalt gesprochen hätte.“

Aber man müsse die DDR-Historie auch „reinholen in die gesamtdeutsche Geschichte“, wie Anne Rabe sagt. „Es ist ja absurd zu sagen: Das geht nur die Ostdeutschen an. Es ist unser gemeinsames Land.“

Plötzlich reden langjährige Bekannte über Gewalt von früher

Bei der Leipziger Buchmesse Ende April hätte Anne Rabe mit Dirk Oschmann eigentlich über „Neue Perspektiven auf den Osten“ diskutieren sollen. Sechs Wochen vor der geplanten Debatte sagte Oschmann ab. Schade eigentlich. Moderieren sollte den lustigen Clash der Streitkulturen übrigens Cornelius Pollmer, Journalist bei der „Süddeutschen Zeitung“, der seinen Text über Oschmanns Werk mit der zeitlos schönen Überschrift Los Wochos in Lostdeutschland“ versah.

Noch bevor ihr eigenes Buch erschien, erzählt Anne Rabe im Café am Savignyplatz, hätten plötzlich langjährige Bekannte angefangen, über Gewalterfahrungen von damals zu reden: „Weißt du noch, der oder der wurde immer angerufen von seinem Nachbarn, dass der Vater schon wieder ausrastet.“

Anne Rabe staunt. „Da sind plötzlich Geschichten aufgetaucht, wo ich dachte: Aha, darüber haben wir jetzt aber 30 Jahre lang nicht mehr gesprochen. Interessant.“

Es scheint, als sei die Debatte um den Osten Deutschlands lange nicht zu Ende. Vielleicht fängt da gerade etwas neu an.

Eine deutsche Debatte.

  • Die Möglichkeit von Glück  von Anne Rabe, Klett-Cotta, 380 S., 24 €
  • Anne Rabe, Jahrgang 1986, ist in Wismar geboren und zog 2005 zum Studium an der UdK nach Berlin, wo sie mit Mann und zwei Kindern auch heute noch lebt. Sie studierte bis 2010 Szenisches Schreiben, veröffentlichte Gedichte, wurde als Dramatikerin u. a. 2008 mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker geehrt, arbeitet als Drehbuchautorin für TV-Serien („Warten auf‘n Bus“, RBB) und schreibt Essays. Ihre Chanson-Singstimme ist übrigens sehr bemerkenswert.

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Das Buch „Schatten der Gesellschaft“ berichtet eindrücklich von Obdachlosigkeit in Berlin. Was sich Liebende so zu sagen haben (könnten): Illustrierte „Paargespräche“ von Line Hoven und Jochen Schmidt. Die Berliner Schriftstellerin Ulrike Draesner erzählt in ihrem neuen Roman „Die Verwandelten“ grandios von Krieg, Flucht und Vertreibung. Und im tip-Interview. Und: Literatur in und aus Berlin im tipBerlin-Überblick.

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