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Auch Dealer sind wie Sozialarbeiter: Thorsten Nagelschmidts großer Berlin-Roman „Arbeit“

Der Wahl-Berliner Thorsten Nagelschmidt ist vieles: Schriftsteller, Veranstalter der Literaturreihe „Nagel mit Köpfen“ und nicht zuletzt Kopf der Band „Muff Potter“, die gerade nach elf Jahren ihren ersten neuen, ziemlich gelungenen Song „Was willst du“ rausgehauen hat. Mit seinem neuen Roman „Arbeit“ wirft sich der in Rheine geborene Nagelschmidt in die Berliner Nacht – und zeichnet ein faszinierend vielstimmiges Zwölf-Stunden-Panorama von denen, die die Stadt in der Nacht am Laufen halten, den Dreck wegräumen, die Reste des Lebens zusammenkehren: Taxifahrer, Späti-Verkäuferin, Polizisten, Dealer, Hostel-Betreiber.

Autor und Musiker Nagelschmidt. Foto: Verena Brüning

tipBerlin Herr Nagelschmidt, Ihr neuer Roman „Arbeit“ ist eigentlich ein Buch total im Jetzt. Fühlt sich das für Sie jetzt in der Corona-Ausgehkrise noch so an?

Thorsten Nagelschmidt Ich kann das nicht so richtig beantworten. Vielleicht muss man das besser Leute fragen, die das Buch lesen. Ob das einen demütig stimmt. Oder vorkommt wie aus einer völlig anderen Welt.

tipBerlin Sie begleiten ein gutes Dutzend Protagonist*innen durch eine Berliner Nacht. Würde die Rettungssanitäterin Tanja, die einen Nebenjob als „Stiefelbiest24“ hat, jetzt nicht eine gegen eine Autotür gekrachte kolumbianische Fahrradkurierin erstversorgen, sondern eine Corona-Patientin?

Thorsten Nagelschmidt Das kann sein. Aber ich war in den letzten Wochen mit einigen Medizinern in Kontakt, die ich interviewt habe. Für die geht es weiter. Es gibt nicht ja nur Corona. Die Leute kriegen auch immer noch ganz normal Schlaganfälle.

Ich habe einen Monat lang in einem Hostel gearbeitet. Undercover

tipBerlin Ihr Personal ist sehr divers. Der verschuldete Taxifahrer aus dem Osten. Osman aus Neukölln, der nur einmal in Prenzlauer Berg war und alle dort komisch findet. Eine zweimal überfallene Späti-Frau. Streifenpolizisten. Dabei tauchen Sie in die Figuren ein, als würden Sie sich diese quasi selbst über den Leib ziehen.

Thorsten Nagelschmidt Ich erzähle mit der so genannten Camera-Eye-Perspektive. Man sieht alles nur durch die Figur, es gibt keinen auktorialen Erzähler. Da ist es total wichtig, dass diese Figuren einen eigenen Duktus, einen eigenen Habitus haben. Ich habe mit unfassbar vielen Leuten gesprochen, viel gelesen. Und ich war bei einigen Sachen auch dabei.

tipBerlin Zum Beispiel?

Thorsten Nagelschmidt Ich habe einen Monat lang in einem Hostel gearbeitet. Undercover. Das war der Ursprung. Ich dachte: Über so ein Hostel kann man wirklich einiges über die Stadt erzählen. Diese komplett unterschiedlichen Menschen, die dort aufeinanderprallen. Dieser Mikrokosmos. Von da aus haben mich dann immer mehr Sachen interessiert.

tipBerlin Im Hostel entstand die Figur „Sheriff“, der sich wie ein Sozialarbeiter fühlt, oder?

Thorsten Nagelschmidt Das ist vielleicht sogar eine große Ähnlichkeit der meisten dieser Figuren: dieser Sozialarbeiter-Aspekt. Das kennen Leute, die einen Späti betreiben, Polizisten, aber auch Drogendealer: dass sie neben ihrer Tätigkeit dafür da sind, ihre Klientel zu betreuen.


„Arbeit“ von Thorsten Nagelschmidt, S. Fischer, 336 S.,
22 €. Foto: S. Fischer

tipBerlin Ihre vorherigen Bücher hatten oft stärkere Bezüge in der eigenen Biografie, zuletzt der Roman „Der Abfall der Herzen“, der zum Teil vor 20 Jahren in ihrer Heimatstadt Rheine spielte. Ist „Arbeit“ deshalb eine ganz andere Herausforderung?

Thorsten Nagelschmidt Klar, die Fallhöhe ist höher, wenn ich mir erst mal Sachen aneignen muss, über die ich schreibe. Aber der Spaß ist auch groß.

Zwischendurch hatte ich einen Berlin-Koller

tipBerlin Können Sie mit dem während der Recherche angesammelten Wissen noch unbefangen ins Nachleben hinein gehen? Also: Wenn wir mal wieder eines haben…

Thorsten Nagelschmidt Ich habe vor dreieinhalb Jahren mit der Recherche angefangen. Da kriegt man natürlich einen Tunnelblick. Ich kann dann nicht abschalten, mache mir die ganze Zeit Notizen oder das Aufnahmegerät an. Für meine Freundin ist das manchmal total nervig. Zwischendurch hatte ich auch mal einen krassen Berlin-Koller. Aber was gerade wegen Corona nicht geht, macht mich ultramilde gegenüber Dingen, die mich noch vor ein paar Monaten genervt haben. Jetzt will ich auch Leute treffen, Action, Live-Musik.

Buchpremiere im Stream: Festsaal Kreuzberg, Mi 29.4., 20.30 Uhr

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