Berlin – Hauptstadt des Verbrechens! Klingt wie die Werbung für eine neue Krimireihe, ist aber der Titel einer Bustour, die zu den Schauplätzen berühmter Verbrechen führt. Zum Ostbahnhof, dem ehemaligen Schlesischen Bahnhof, wo der Serienmörder Carl Großmann seine zu Dosenfleisch verarbeiteten Opfer verkauft haben soll. Nach Moabit, wo die Brüder Sass unter den Dielenbrettern ihrer gemeinsamen Wohnung die Beute ihrer Bankeinbrüche versteckten. Oder auch zum Alexanderplatz, von wo aus der beleibte Ernst Gennat als „Buddha der Kriminalisten“ in seinen 33 Dienstjahren 298 Morde aufklärte.
Eine ähnliche Tour zu den Schauplätzen fiktiver Verbrechen gibt es noch nicht. Ist nicht geplant. Jedenfalls nicht für demnächst. Dabei sind die Deutschen geradezu verrückt nach Krimis. Schließlich läuft der Krimimarathon Berlin-Brandenburg derzeit (und noch bis zum 22. November) bereits in sechster Auflage. Zudem finden sich in Berlin für neue literarische Leichen in jeder Buchsaison vertraute wie auch weniger bekannte Tatorte.
Sei es eine Dachgeschosswohnung im Bötzowviertel in Prenzlauer Berg, in der in Oliver Mйnards Thriller „Federspiel“ eine Fernsehmoderatorin ein im übelsten Sinne atemberaubendes Wiedersehen mit einem Maskenmann erleidet. Oder eine Gartenkolonie in Lichtenberg im Roman Der Eismann von Silja Ukena, wo ein alter Mann in einer Datsche tot aufgefunden wird: mit groben Stricken an einen roten Holzstuhl gefesselt, nackt in bitterer Kälte. Oder die Halle des Moabiter Kriminalgerichts, wo der Journalist Jens Anker in „Schatten über Moabit“ einen Staatsanwalt unsanft aus tödlicher Höhe zu Boden befördern lässt. Allesamt Krimi-Debüts dieses Herbstes.
Krimis in Berlin – das war von jeher eine vielfältige, gleichwohl auch wechselvolle Geschichte. Beileibe nicht nur beim ARD-Sonntagsfernsehritual. Und in den besten Momenten ist es immer auch so, dass sich in ihren Tatorten die Stadt widerspiegelt. Mit all ihren Wandlungen, ihren Widersprüchen.
„So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin.“
So erlebt einer der jüngsten Ermittler wider Willen im Sommer 1929 die Gegend um den Bahnhof Zoo. Die Rede ist natürlich von Erich Kästners Emil und die Detektive. Emil Tischbein ist in seinem verhassten besten Anzug aus Neustadt zum Verwandtenbesuch in die Hauptstadt gereist. Nun klebt er an den Fersen eines gewissen Herrn Grundeis, der ihn im Zug um 140 Mark erleichtert hat. Mit der Straßenbahn der Linie 177 fährt Emil direkt hinein ins Herz der Metropole. Unmittelbar nach seiner Ankunft wird der Musterschüler aus der Provinz mit der eigenen Faszination und der beängstigenden Anonymität der Großstadt konfrontiert. Es sind die Wohn- und Geschäftsviertel des bürgerlichen Westens, in denen Erich Kästner kurz vor der Weltwirtschaftskrise seinen juvenilen Helden Freundschaft, Solidarität und Zusammenhalt finden lässt.
In den Westteil der Stadt kommen die Blutsbrüder in Ernst Haffners gleichnamigem Roman nur, um sich im dortigen Homosexuellenmilieu zu prostituieren. Ihr Zuhause sind die Kaschemmen und Wärmehallen der Spandauer Vorstadt. Acht Jungs, zwischen 16 und 19 Jahre alt, die sich ins „Hungerheer“ der über sechs Millionen Arbeitslosen einreihen. Sie haben keine Papiere, werden von der Polizei oder ihren Eltern gesucht, allein wären sie verloren. Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ war gerade erst drei Jahre alt, als der Journalist Ernst Haffner seine Jugendclique durch dieselbe Gegend zwischen Münz- und Linienstraße stromern ließ. Wie bei Döblin pulsiert und qualmt und tönt es allenthalben. Die Elektrische rattert durchs Geschehen. Es wird gestohlen, gehurt, geprügelt und geschwoft.
So entsteht ein detailliertes und atmosphärisch dichtes Bild der frühen Dreißigerjahre, in denen die Halbwelt längst zur hauptstädtischen Touristenattraktion geworden ist: „Alexanderplatz! Mittelpunkt der Berliner Unterwelt … Vorerst die Feststellung, dass es heute in Berlin jene Verbrecherkeller, wie sie uns in hundert Filmen gezeigt werden, gar nicht mehr gibt. […] Die großen Bierlokale mit brüllender Blechmusik schon am frühen Vormittag sind Wartesäle des großen Heeres der Zuhälter, Obdachlosen und Gelegenheitskriminellen. Aber diese Gäste machen den Kohl des Wirtes nicht fett. Attraktion dieser Lokale ist die Prostitution.“
Das Schicksal der Blutsbrüder nimmt den genretypischen Verlauf. Die Clique spezialisiert sich auf Handtaschendiebstähle im Gedränge von Warenhäusern und Markthallen. Auf der Höhe ihres Erfolges wird ihr Chef bei einem Einbruch gefasst. Kopflos verliert die Gruppe ihren Halt. Der sozialkritische Jugendbandenkrimi von Ernst Haffner landete 1933, ein Jahr nach seinem Erscheinen, in den Feuern der Bücherverbrennung.
Im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten spielt Volker Kutschers historischer Krimi Märzgefallene, der fünfte aus seiner Gereon-Rath-Reihe, die von Tom Tykwer unter dem Titel „Babylon Berlin“ verfilmt wird. Berlin erscheint darin düster wie die Kulisse zu Fritz Langs „M – eine Stadt sucht einen Mörder“. Und wenn es einmal hell wird, dann bedeutet das erst recht nichts Gutes. „Über den kahlen schwarzen Bäumen des Tiergartens leuchtete der Nachthimmel … Die Goldelse oben auf der Siegessäule ragte über die dunklen Wipfel und leuchtete wie eine Fackel … Und jetzt bemerkte Charly auch, wie unregelmäßig der Himmel leuchtete, wie ein Stück glühende Kohle, das mal dort und mal hier heller aufglimmte.“
Der Reichstagsbrand läutet das endgültige Ende der Weimarer Republik ein. Charlotte „Charly“ Ritter, Gereon Raths emanzipierte Verlobte, scheint darüber schier zu verzweifeln, während ihr künftiger Gatte bemüht ist, die Zeichen der Zeit zu ignorieren. Die Ermordung eines Obdachlosen am Nollendorfplatz hält ihn auf Trab, zudem muss er sich mit SA-Leuten herumschlagen, deren Stiefeltritte unüberhörbar durchs Präsidium hallen.
Die historischen Berlin-Krimis Volker Kutschers, aber auch die von Susanne Goga oder aus der Reihe „Es geschah in Berlin …“ des Jaron-Verlages stoßen auf ein starkes Bedürfnis nach Geschichten, in denen die immer wieder aufflammende Frage heutiger Altbaubewohner mit den Mitteln der Spannungsliteratur beantwortet wird: Was mag in diesen Häusern schon alles passiert sein, die seit mehr als hundert Jahren die Straßenzüge der beliebtesten Innenstadtviertel säumen? Zum Beispiel in denen in Prenzlauer Berg, in die Gereon Rath freiwillig keinen Fuß gesetzt hätte – zu viel Gosse, zu viele Proleten.
Die gab es dort auch noch 1981, als Wolfgang Kienasts Krimi Das Ende einer Weihnachtsfeier erschien. „Ein Stadtteil, der den übelsten Leumund besaß“, heißt es darin über die Gegend rund um den Kollwitzplatz, „die meisten Gewaltverbrechen, die meisten Einbrüche, die meisten, die meisten …“ Dennoch: „Es war kein Gangsterviertel, obwohl es hier nicht nennenswert anders aussah als wahrscheinlich in Soho.“
Wahrscheinlich! Kein normaler Ost-Berliner unterhalb des Rentenalters konnte oder durfte Anfang der Achtziger wissen, wie es in Soho aussah. Auch nicht Kienasts ermittelnder Staatsanwalt mit dem ungewöhnlichen Namen Manfred Kuusihaara, der in einem Tötungsdelikt aus Eifersucht ermittelt und dabei auf Machenschaften und Korruption beim Wohnungsbau stößt. Die realistischen Schilderungen des realsozialistischen Alltags und Strafvollzugs sowie der wenig vorbildliche Lebenswandel der Hauptfigur – eines Vertreters der DDR-Justiz, der mit seiner Sekretärin anbändelt, während der Verhandlungen Kreuzworträtsel löst und sich in der Mangelwirtschaft begehrte Waren organisiert –, führten zu einem Verbot des Krimis. Wolfgang Kienasts Ost-Berlin ist ein tief versumpfter, „altersgrauer“ Ort, wahrscheinlich wie Soho.
Auf der anderen Seite der Mauer entstand zur selben Zeit gerade etwas Neues. Künstler, Bundeswehrflüchtlinge, Hausbesetzer und Bohemiens verwandelten West-Berlin in ein subkulturelles Soziotop. David Bowie und Iggy Pop schauten vorbei, Christiane F. avancierte zur berühmtesten Drogensüchtigen Deutschlands und die Band Ideal besang den Ort, an dem sich damals „die Szene“ traf – den Dschungel. „Eine Art Nachtlokal“, heißt es lapidar in Ulf Miehes Lilli Berlin von 1981, der vor einem Jahr neu aufgelegt wurde, über den Kultclub. „Aus den Lautsprechern kam eine Musik wie von stampfenden Maschinen, krachend lauter Roboter-Rock’n’Roll, der das Trommelfell erzittern lässt und den man jetzt mit irgendeinem neuen Modewort verkauft. Grelle Neonbeleuchtung machte den Raum taghell … Das Ganze hatte etwa die Atmosphäre einer überfüllten, gepflegten Flughafentoilette.“
Rick Jankowski ist dort mit der attraktiven Sekretärin seines Chefs, eines Immobilienhais mit Verfolgungswahn, für den er als Leibwächter arbeitet. Eine Geschichte um Fluchthilfe und Verrat nimmt ihren Lauf, in deren Zentrum Ricks große Liebe namens Lilli steht. Lakonisch und präzise schreibt Miehe von der Inselstadt, in der die Kneipen jeden Abend voll sind, „weil dann das Gefühl, eingekreist, eingebunkert zu sein, nicht so bedrückend oder wenigstens leichter zu ertragen ist.“
Jörg Fauser, den der tip Anfang der 80er-Jahre nach Berlin geholt hatte, befand über Ulf Miehe, er sei „der beste Kriminalliterat, den Deutschland je hervorgebracht hat“. Fauser selbst beschrieb Berlin als mythischen Ort, an dem sich die Wege der Prostituierten und Taxifahrer, Trinker und Spieler, Zeilengeldschinder und Kneipenpoeten kreuzten, allesamt gescheiterte Existenzen, Nachtgestalten wie von Chandler erdacht oder von Tom Waits besungen. Heinz Harder, die Hauptfigur in Fausers 1985 erschienenem Krimi Das Schlangenmaul, ist so ein Typ – zynisch, desillusioniert, eigenbrötlerisch. Der joblose Illustriertenschreiber versucht sich als „Bergungsexperte für außergewöhnliche Fälle“. Auf der Suche nach einer verschollenen 19-Jährigen verschlägt es ihn in die Kantstraße, die tagsüber so etwas wie „der Ku’damm des kleinen Mannes“ ist, nachts hingegen „das Paradies der flüchtigen Träume. Dann bieten die bunten Lichter der türkischen Imbissstuben und ägyptischen Snackbars, der chinesischen und spanischen Restaurants, der Destillen und Neoncafйs, der Diskotheken und Striptease-Schuppen genau die richtige Beleuchtung für Geschichten, die nur die Großstadt erzählt – und das auch nur noch mit heiserer Stimme und gespaltener Zunge.“
Dennoch sei Berlin ein schwieriges Pflaster, hört man Krimi-Verleger immer mal wieder maulen. Genre-Reihen wie „Berlin-Crime“ von Schwarzkopf & Schwarzkopf wurden nach wenigen Jahren eingestellt. Beim deutschsprachigen Gegenwartskrimi denkt man eher an das München eines Friedrich Ani, das Hamburg eines Frank Göhre und einer Doris Gehrke, das Freiburg von Oliver Bottini.
Möglicherweise liegt das auch daran, dass Berliner Krimileser nicht wie Eifelbewohner oder Münsteraner ganz aus dem Häuschen sind, wenn ihre Gegend mal in einem Roman vorkommt. Es ist dem Berliner schlicht schnuppe, ob die Fantasie eines Schriftstellers eine Bombe in seiner Stammkneipe zündet oder – wie Christoph Peters jüngst in Der Arm des Kraken – den vietnamesischen Ladenbesitzer von nebenan mit einem japanischen Kampfschwert tranchiert. Er ist daran gewöhnt, seine Stadt in Filmen und Büchern wiederzufinden.
Dennoch starten einige Verlage den Versuch, die durchaus erfolgreiche Regionalkrimi-Masche auf die Großstadt zu übertragen. Dazu muss Berlin zunächst in kleinstadtgroße Teile zerlegt werden. Und so gibt es inzwischen Tiergarten-, Moabit-, Prenzlauer-Berg- und andere Bezirkskrimis. Das Autorenduo Krause & Winckelkopf legt mit Holzmarkt bereits seinen dritten Friedrichshain-Krimi im Be.Bra-Verlag vor. Darin geht es um den Mord an einem Puppenspielstudenten. Kommissar Max Martaler durchkämmt das Viertel, spricht mit Professoren und Kommilitonen und bekommt ganz in guter, alter Regiokrimi-Manier reichlich Anlass, Lokalitäten zu beschreiben.
Allerdings sind auch Figurenzeichnung und Erzählökonomie eher kriminalliterarische Regionalliga. Besonders schlimm wird es, wenn es krass sein soll: „Nachts kann man hier den Ratten dabei zusehen, wie sie Coladosen ficken.“
Ganz anders dagegen Johannes Groschupf, der in seinem Jugendkrimi Das Lächeln des Panthers den Niedergang eines alten Hotels in der Ku’damm-Gegend beschreibt. Als Vorbild diente ihm das Bogota in der Schlüterstraße, das vor zwei Jahren schließen musste. Auch das Hotel Marabu in Groschupfs Roman hat schon mal bessere Zeiten erlebt. Nach dem Tod des Besitzers soll dessen 17-jährige Tochter Katinka das hoch verschuldete Etablissement übernehmen.
Mit wenigen Strichen zeichnet Groschupf ein Bild von der geschichtsträchtigen Institution samt ihren skurrilen Bewohnern. Man hört das seufzende Knarren der Dielen unter dem zerschlissenen Teppichboden, sieht den schlafenden Nachtportier und bestaunt mit dem eigenartigen Kunsthistoriker Eduard Skripnik das Panther-Gemälde im Bibliothekszimmer. Katinka taucht ein ins Mysterium einer vergangenen Epoche, versinkt in Bergen nicht beglichener Rechnungen und wird zur Gegenspielerin eines Immobilienspekulanten. Ahnungslos tappt sie in die Spur ihrer Ahnen. Berlin, gestern, heute, die Herausforderungen des Lebens, die Sehnsüchte, die Gefahren – tolles Buch, nicht nur für 17-Jährige.
Berlin – Krimistadt? Ja, doch, unbedingt. Man muss nur wissen, wo man sie findet, „die richtige Beleuchtung für Geschichten“, die Orte, die Menschen, die etwas erzählen über den Wandel, den Zeitgeist, die Machtkämpfe, die Träume, die Verzweiflung. Und über das Verbrechen, das keine Hauptstadt haben kann, weil es überall stattfindet, so wie Geschichten überall stattfinden, gute und schlechte, lustige und traurige, harmlose und grausame – auch in Berlin.
Text: Ralph Gerstenberg
Fotos: Harry Schnitger
Der tip-Autor ist Journalist und Autor von ?Kriminalromanen.
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