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Literatur

12 Bücher für den Herbst: Widerstand, Clubs, Segelsex

12 Bücher für den Herbst: Denn die Tage werden kürzer, die Lesezeit wird länger. Mit sehr gutem Lesestoff von Bezahd Karim Khani, Isabel Fargo Cole, Simone Buchholz. Mit Berlin-Romanen und Segelsex. Und mit den besten Empfehlungen aus der tipBerlin-Literatur-Redaktion.


Behzad Karim Khani: Hund Wolf Schakal

12 Bücher für den Herbst, unter anderem mit Behzad Karim Khani. Foto: F. Anthea Schaap

Millieu-Roman Die Weiße Rose. Saam hasste diese Schultheisskneipe, in die er sich von Heydar mitschleppen ließ, dem libanesischen Hauptschulkumpel, „um zu jemandem zu werden, der er nicht war.“ Saam, der dünne Junge aus Teheran, war mit seinem Vater Jamshid, dem Kommunisten, und dem Bruder Nima aus der Heimat ins „Achtungland“ geflohen, nach der iranischen Revolution. Nachdem die Mutter im Evin-Gefängnis ermordet worden war.

Die älteren Jungs in der Weißen Rose waren gerade von Butterflymesser und Baseballschläger zu scharfen Knarren gewechselt. Hingen ab mit Zuhältern, Hools, Waffenhändlern, Drogendealern. Knastabschiedspartys waren das große Ding. 

Saam stand in der Hierarchie ganz unten. Er wollte einfach nur, dass niemand mehr über ihn lachte.

Neukölln, die 90er-Jahre. Arabische Gangs, die die Straße beherrschen. Wo alle ihre Traumata mit sich herumschleppen und gebrochene Mittelhandknochen Ruhm bedeuten. „Hier umarmten und erschlugen sie einander beiläufig“, schreibt Behzad Karim Khani mit dieser grandios punktgenau treffenden Prosa in seinem Debütroman „Hund Wolf Schakal“. Eine Prosa, die alles drauf hat: das furios choreografierte Voranstürmen, die liebevolle Genauigkeit in der Figurenzeichnung, den Rap-Rhythmus der Dialoge.

Dieses Buch des Lugosi-Bar-Betreibers Behzad Karim Khani (ihr habt doch alle seinen großartigen tip-Exklusiv-Text „Danke Kreuzberg, danke Berlin“ gelesen, oder?) ist nicht zur Zerstreuung da, nicht zum beiläufigen Zeitvertreib. Es geht keine Umwege. Es kommt direkt, es kommt von vorn. Es will dich ganz und gar.

Und irgendwann schlägt Saam gegen seine Angst an, schlägt ins Gesicht eines Mannes, der ihn um Geld betrogen hat. Er hat die Logik der Gewalt verinnerlicht. Wird auch Jamal fertigmachen, der seinem Bruder das neue BMX-Rad weggenommen hat. Die Geldstapel in seiner Hosentasche werden immer dicker werden. Bis ihn eine Kugel in den Oberarm trifft. Bei einem Überfall. Eines der Bücher des Jahres. Erik Heier

  • Hund Wolf Schakal von Behzad Karim Khani, Hanser Berlin, 288 S., 24 €

Cristina Morales: Leichte Sprache

Polit-Roman Nati, Marga, Àngels und Patri leben in einer betreuten Wohngruppe, angeblich sind sie kognitiv beeinträchtigt. Dafür verstehen sie ihre Entmündigung allerdings ziemlich gut. Gewitzt und entschlossen setzen sie sich gegen sie zur Wehr. In diesem umwerfenden (Mani)Fest weiblicher Selbstbehauptung entblößen sie vielstimmig das machistische Unterdrückungssystem, dem sie (und die Gesellschaft) ausgesetzt sind. Im Juni erhielten Cristina Morales, die Dramatikerin und Choreografin aus dem 2022er Buchmessen-Gastland Spanien, und ihre Übersetzerin Friederike von Criegern für diese „Liebeserklärung an die Politisierung, aber auch an den Tanz und an das Begehren“ den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. Thomas Hummitzsch

  • Leichte Sprache von Cristina Morales (Übersetzung: Friederike von Criegern), Matthes & Seitz Berlin, 409 S., 25 €

Esther Kinsky: Rombo

Geländeroman Esther Kinsky erkundete in ihren Romanen „Am Fluss“ und „Hain“ intensiv die inneren und äußeren Landschaften. Ihr aktueller Roman, der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 schaffte, bildet da keine Ausnahme. Sie rekonstruiert darin die Folgen zweier Erdbeben 1976 im norditalienischen Friaul, wo sie selbst auch zeitweise lebt. Kinsky lässt ihr Auge über Landschaft, Materie und Geografie schweifen und eine Handvoll Figuren von den Tagen und Wochen der Katastrophe erzählen. Sie wühlt im Scherbenhaufen der Erinnerung, um das Elementare des menschlichen Daseins zu vermessen und (be)greifbar zu machen. Große Kunst! Thomas Hummitzsch

  • Rombo von Esther Kinsky, Suhrkamp Verlag. 267 S., 24 €

Florian Werner: Der Stuttgart Komplex

Gesellschaftsstudie Ob es die Proteste gegen den Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ sind oder die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, die im Juni 2020 aus dem Ruder liefen: Ausgerechnet im sonst so biederen Ländle hat sich eine neuartige Protestkultur entwickelt, bei der Hippies gemeinsam mit Rechten auf die Straße gehen und im selben Zug marschieren. Der in Berlin geborene und in Stuttgart aufgewachsene Florian Werner widmet sich diesem Phänomen und spricht dabei der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg eine Vorreiterrolle zu. Mag seine steil anmutende These auch mit einem Augenzwinkern formuliert sein, so fördert er doch Bemerkenswertes zutage und weiß, exzellent zu unterhalten. Welf Grombacher

  • Der Stuttgart Komplex. Streifzüge durch die deutsche Gegenwart von Florian Werner, Klett-Cotta, 192 S., 20 € 

Simone Buchholz: Unsterblich sind nur die anderen

Mit Seegang Simone Buchholz ist preisgekrönte Krimiautorin, aber auch Kolumnistin für die „SZ“ und Podcasterin. Nach dem Finale ihrer starken Krimiserie um Chastity Riley hat sie nun einen Einzelroman vorgelegt, der sich kurz vor der Frankfurter Buchmesse auf Twitter den trendenden Hashtag #segelsexbuch verdiente. Mit ihrem Roman über eine mysteriöse Nordatlantik-Fähre schippert Buchholz in überraschende Gewässer. Der Seegang ist nicht kriminalistisch, sondern nautisch-mythisch, magisch-realistisch und postmodern-fantastisch. Möglich, dass das nicht all ihren Fans gefällt, aber so ist das bei Reisen zu neuen Ufern eben. Und beim Klabautermann, dieser Sound! Christian Endres

  • Unsterblich sind nur die anderen von Simone Buchholz, Suhrkamp Nova, 265 S., 18 €

Charlotte Krafft: Marlow im Sand

Hard-Boiled Sci-Fi „Marlow im Sand“ ist natürlich keine semi-fiktionale Betrachtung eines brandenburgischen Dorfs in den dürren Zeiten von Tesla – China Marlow ist vielmehr die Titelheldin des neuen Buchs von Charlotte Krafft. Nach der eskalierenden Fantasie ihrer Erzählungen „Die Palmen am Strand von Acapulco, sie nicken“ kommt „Marlow“ fast konzentriert und ernst daher: Im Grunde eine hard-boiled Detektivgeschichte in einem Science-Fiction-Szenario, die Ermittlerin ist on the road auf der Suche nach einer Verschwundenen – und landet in der Wüste. Die mild surreal ausgestattete Welt verweigert sich tiefschürfender Metaphorik ebenso wie Banalität: Genreliteratur, wie sie auch sein kann. Steffen Greiner

  • Marlow im Sand von Charlotte Krafft, Korbinian Verlag, 250 S., 22 € 

Berliner Partyleben Ende der Nullerjahre. Hier im 103. Foto: Imago/David Heerde

Calla Henkel: Ruhm für eine Nacht

Club-Berlin Berlin, 2008. Zwei US-Kunststudentinnen: neu in der Stadt. Haley, Titelbildschönheit mit Warhol-Zitaten, will berühmt werden. Zoe (die Erzählerin) trauert um Ivy, die ermordete beste Freundin. Die Wohnung, in die beide ziehen, dort einen Talk-of-the-Town-Club aufziehen, gehört einer Schriftstellerin. Die nicht da ist, aber heimlich zuschaut. Und Halex und Zoe beschließen, sich als Roman zu inszenieren. Denn: „Jede versäumte Nacht in Berlin ist eine versäumte Nacht in Berlin.“ Suff, Drogen, Techno, Sex, Sehnsucht, Paranoia, Entgrenzung, Tod: Das Debüt „Other People‘s Clothes“ der in Berlin lebenden US-Künstlerin Calla Henkel, Mitbegründerin der arty TV Bar, schlug zuerst in den USA ein. Eine wilde, sinnliche, jubilierende, eskalierende, verstörende Story. Großes Wow. Erik Heier

  • Ruhm für eine Nacht von Calla Henkel, aus dem Englischen (USA) von Verena Kilchling, Kein & Aber, 448 S., 25 €

Michael Kumpfmüller: Mischa und der Meister

Adaption Mit seinem frisch gestutzten Bart sieht er eher aus wie ein Hipster und nicht wie der Messias. In der russischen Community von Berlin schlägt dieser Jeshua auf und sorgt nicht nur beim frisch verliebten Mischa für Aufsehen. Michael Kumpfmüllers Roman „Mischa und der Meiste“ ist eine Adaption von Bulgakows „Meister und Margarita“ und eine Liebeserklärung an die russische Literatur. Das mag verwundern, wo das Land in diesen Tagen doch alles andere als liebenswert ist. Trotzdem kommt das Buch gerade recht, zeigt es doch, dass es neben Putins Russland auch ein anderes gibt. Eine Geschichte über die Sehnsucht nach Orientierung und über Literatur, die diese zu leisten imstande ist. Welf Grombacher

  • Mischa und der Meister von Michael Kumpfmüller, Kiepenheuer & Witsch, 368 S., 24 €

Isabel Fargo Cole: Die Goldküste. Eine Irrfahrt

US-Geschichte Mit ihrem Roman „Die grüne Grenze“ etablierte sich die US-amerikanische Wahlberlinerin Isabel Fargo Cole 2017 als bemerkenswerte Stilistin und dunkle Chronistin deutscher Zeitgeschichte. Ihr erstes Sachbuch „Die Goldküste“ erzählt nun in klarer Sprache essayistisch eine amerikanische Geschichte zwischen nature writing und Familiensaga: von den abgelegenen Küsten und Gebirgen Alaskas und ihren Machtbalancen zwischen indigenen Völkern, Russland, den sich frontier um frontier weiterschiebenden Vereinigten Staaten, den Goldsuchern und Missionaren. Das Buch folgt Nischen wie Buchten und wie sein Gegenstand heißt es einen nicht mit offenen Armen willkommen, aber belohnt das Schürfen reich. Steffen Greiner

  • Die Goldküste. Eine Irrfahrt von Isabel Fargo Cole, Matthes & Seitz, 280 S., 43 € 

Sinthujan Varatharajah: an alle orte, die hinter uns liegen

Spurensuche Eine Frau steht drei Elefanten gegenüber, so fern ihrer Heimat scheinen sie einander im Schmerz zu erkennen. Ausgehend von dieser Szene denkt Sinthujan Varatharajah über koloniale Gewalt und ihre Folgen nach. Er:sie, in Berlin lebend, schlägt dabei Brücken zwischen der Fluchtgeschichte der tamilischen Eltern vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka und den hegemonialen Machtpolitiken der europäischen Welteroberer. Dabei wird deutlich, wie die imperiale Brille bis heute unseren Blick auf und Umgang mit der Welt prägt. Varatharajah geht dabei explizit woke Wege, um Gewissheiten und Ordnungsmuster zu brechen. Das provoziert Gegenrede, aber auch einen neuen Blick auf die Dinge. Thomas Hummitzsch

  • an alle orte, die hinter uns liegen von Sinthujan Varatharajah, hanserblau, 352 S., 23 € 

Jutta Voigt: Wilde Mutter, ferner Vater

Familienroman Wenn Jutta Voigt über die Vergangenheit schreibt, vermischen sich historische Fakten mit persönlichen Erinnerungen, Gedanken und Phantasien. Nach „Stierblutjahre“, diesem humorvollen Rückblick auf die DDR-Bohème rund um das Berliner Ensemble, rekapituliert sie in „Wilde Mutter, ferner Vater“ jetzt ihre Familiengeschichte: Bombennächte und Luftschutzbunker am Friedrichshain, Petticoat und heimliche Küsse in Prenzlauer Berg, dann der Sog der Künstlerszene in Mitte. Während der Krieg dem Vater und der Mutter nicht nur die Jugend, sondern auch die Liebe zerstört hatte, nimmt Tochter Judy alles mit. Vielleicht wurde die Berliner Nachkriegszeit noch nie so poetisch erzählt. Julia Schmitz

  • Wilde Mutter, ferner Vater von Jutta Voigt: Aufbau Verlag, 256 S., 22 €

Julia Friese: MTTR

Feminismus Steht der kryptische Titel dieses Romans, „MTTR“, tatsächlich für „Mean Time To Recover“, die durchschnittliche Erholungszeit nach einem Systemabsturz, wie es der Buchumschlag anbietet? Oder nicht eher für einen ganz anderen Zustand, der durch  Karrieredruck und Bodyshaming, Familientrauma und gesellschaftliche Erwartungen Krisenpotential hat? Der Ich-Erzählerin Teresa Borsig war ihre Ein-Frau-Agentur lange genug. Dann tauchte Erk auf, von dem sie nun ein Kind erwartet. Und alles wird anders. Mit in Scherben zerspringenden Sätzen beschreibt die Berliner Musikjournalistin Julia Friese, wie ihre Protagonistin als (werdende) MuTTeR an existenzielle Grenzen gerät. Thomas Hummitzsch

  • MTTR von Julia Friese, Wallstein Verlag, 421 S., 25 €

Mehr Literatur über und aus Berlin

Die große Liste der 100 Berlin-Romane, die man gelesen haben sollte. Sternekoch Max Strohe und sein Debütroman: „Kochen am offenen Herzen“. Autobiografisches Buch von Judith Holofernes, einst Kopf von Wir sind Helden: „Berlin war immer ein Schutzraum für mich“. Der neue Roman von Christian Baron: Ganz unten im Malocher-Milieu. Die Übersicht über unsere Texte aus dem tipBerlin-Literaturressort findet ihr hier.

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