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Literatur

12 neue Bücher im Frühling: Von Katerina Poldajan bis Jakob Hein

Wir haben uns durch Neuerscheinungen des Frühjahrs gelesen – und haben jetzt so richtig Bock auf Bücher und den Berliner Frühling. Sobald es wärmer wird, bietet es sich ohnehin an, in einen der vielen Hauptstadtparks zu schmökern. Umso besser ist es doch, wenn sich die Lektüre nicht als Fehlgriff entpuppt. Hier sind 12 neue Bücher für den Frühling, die wir euch ans Herz legen möchten.

Neue Bücher im Frühling. Und jetzt ab auf die Wiese. Foto: Imago/Steinach

„Zukunftsmusik“ von Katerina Poladjan: Sowjet-WG-Blues

„Zukunftsmusik“ von Katerina Poladjan Foto: S.Fischer

„Ja, wir alle hoffen auf bessere Zeiten“, hört Warwara Michailowna von jedem, der ihr ein weiteres Möbelstück abkauft. Mit den Einnahmen hält sie sich, ihre Tochter, ihre Enkelin und Urenkelin über Wasser. Sie teilen sich mit einer Handvoll anderer Menschen eine heruntergekommene Gemeinschaftswohnung in Sibirien, als im fernen Moskau Michail Gorbatschow an die Spitze des Zentralkommitees der KPdSU gewählt wird. Seine Politik ist die Zukunftsmusik, die im Titel von Katerina Poladjans neuem Roman steckt. Ebenso poetisch wie lakonisch beschreibt die in Moskau geborene Berlinerin den Tag aus Perspektive der Bewohner dieser Kommunalka, die an der Gegenwart leiden und noch nicht ahnen, dass sich von einer besseren Zukunft zu träumen lohnt. Thomas Hummitzsch

  • Fischer, 186 S., 22 €

„Der perfekte Kuss“ von André Kubiczek: Jugend ohne Klassenstandpunkt

Das Cover des Buchs schreit Herbst, der Inhalt passt zum Frühling: „Der perfekte Kuss“ von André Kubiczek. Foto: rowohlt Berlin

Frei von der Seele weg und ohne dabei zu viel zu wollen, schrieb der Berliner André Kubiczek 2016 in „Skizze eines Sommers“ über eine ganz normale Jugend in der DDR. Dass die sich (abgesehen von den Club-Zigaretten) von einer in der BRD gar nicht mal so sehr unterschied, war ein Grund, warum sein für den Deutschen Buchpreis nominierter Coming-Of-Age-Roman auch im Westen ein Bestseller wurde. Mit „Der perfekte Kuss“ erzählt der 1969 in Potsdam geborene Autor jetzt Renés Geschichte auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Halle weiter und beendet seine Trilogie. Musik, Mädchen und Bücher sind ihm immer noch wichtiger als ein Klassenstandpunkt. Ein herzerfrischend normaler Roman über das Ende der Unschuld. Welf Grombacher

  • Rowohlt Berlin, 400 S., 24 €

„Supermilch“ von Philipp Böhm: Bad Hair Days

Buch zum Frühling: „Supermilch“ von Philipp Böhm. Foto: Verbrecherverlag

Ein Werbetexter, der über Kubas Strände fabuliert, die er nie sehen wird. Ein Kanalarbeiter, der gegen absurde Fettberge im Abwassersystem angeht und zum Internet-Meme wird. Rätselhafte Kisten nahe eines Aussteigerdorfs. Ein Elvis-Imitator, der sein letztes Video „Der King erklärt“ dreht. Oder der „Kill Screen“,  das Ende des Spiels Pac-Man, in dem kein Ende vorgesehen war. Die konzentriert konstruierten Geschichten des Berliner Autos Philipp Böhm fühlen sich an wie ein nervöses Zucken im Magen, eine diffuse Bedrohung ohne Ansage, eine Zukunft, die uns zu nahe kommt. Wie „Träume von einem Leben ohne Bad Hair Days“. Schön wär‘s. Erik Heier

  • Verbrecher Verlag, 174 S.

„Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen: Auf die Fresse

Schwere Kost zum Frühling: „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Foto: Kanon Verlag

Thomas: hat sich totgefahren. Karsten: ging in die USA. Nur Heiko ist immer noch da, jetzt Bestatter, einst Elektrikerlehrling, der letzte aus der einstigen Jugendgang in Leipzig, dieser verkaterten Heldenstadt. Jener Gang, die vor Jahren, um die Jahrtausendwende, eine Telefonzelle hochjagte – mit Plastiksprengstoff, den Karsten besorgt hatte, der wollte doch Sprengmeister werden. Und diese eine Bombe, die größte, die sie damals gebaut haben, die muss auch noch irgendwo sein. Ein Gedanke, der Heiko aufwühlt, ihn umtreibt, seit er die Plane von der Unfallleiche am Straßenrand zog und in Thomas’ Gesicht blickte, den toten Thomas aus dem Autowrack, der irgendwann abgedriftet war, und nicht erst auf der Straße. Und Heiko erinnert sich, flippert hin und her durch die Jahre, und diese Erinnerungen sind wie alte Wunden, schlecht vernarbt und dünn überwachsen.

Dominico Müllensiefen brilliert in seinem Debüt mit kraftvoll konturierten Figuren, grandiosen Dialogen und einer teils forensischen Detailversessenheit. Nach der Lektüre hat man zum Beispiel geradezu anwendungsbereite Fachkenntnis darüber, wie man jegliche Körperöffnungen von Leichen dicht kriegt. So zeichnet Müllensiefen ein beeindruckendes Psychogramm von zahlreich platzenden Träumen und brüllender, oft aber auch nur noch tonloser Wut. Von Landschaften, die einfach nicht blühen wollen, egal, was der dicke Kanzler einst versprach. Und die Jobs, die hier noch bleiben, sind würdelos und mies bezahlt, wie ständige Fußtritte für Biografien, die den Bach runter gegangen sind mit wildem Wumms. Überall Verlorene, Verbitterte. Es wird gesoffen und geprügelt, und die Sehnsucht nach ein bisschen Liebe und Zukunft kriegt immer wieder auf die Fresse. Im Osten geht die Sonne unter. Aber wo, gottverdammt noch mal, ist da noch ein bisschen Licht? Erik Heier

  • Kanon, 336 S., 24 €

„Rombo“ von Esther Kinsky: Nach dem Beben

„Rombo“ von Esther Kinsk Foto: Suhrkamp

Den Hintergrund dieses Romans bilden die Erdstöße, die das norditalienische Friaul 1976 erschütterten. Gleich zu Beginn beschreibt Esther Kinsky, woran der aufmerksame Beobachter erkennen kann, was dieser Landschaft zugestoßen ist. Diesem aufmerksamen Blick folgend, erkundet sie das Gelände und später die Erinnerungen von einem halben Dutzend Figuren, die die Beben erlebt haben. Dabei führt Kinsky die Verschiebungen und Überlagerungen von Schichten und Geschichte in eine literarische Struktur über. So wohnt dieser Prosa das Beben inne und die Erinnerungsfragmente ihrer Figuren liegen verstreut zwischen regionalen Märchen, kulturwissenschaftlichen Erkundungen und überwältigenden Naturkunden. Ein großer, nein, ein mächtiger Text. Thomas Hummitzsch

  • Suhrkamp, 267 S., 24 €

„Ein simpler Eingriff“ von Yael Inokai: Die Kraft der Individuen

„Ein simpler Eingriff“ von Yael Inokai Foto: Hanser Berlin

Meret behandelt als Krankenschwester Menschen, deren Verhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, weil sie beispielsweise Wutanfälle haben. Mit einer neuen Patientin fängt sie an zu zweifeln: Die junge Marianne glaubt nach dem Eingriff, nicht mehr sie selbst zu sein. Und auch Merets Zimmernachbarin Sarah, mit der sie eine Beziehung eingeht, steht ihnen kritisch gegenüber. Es sind kurze, durchrhythmitisierte Sätze, in denen Yael Inokai von struktureller Unterdrückung und der Kraft des Individuums, das sich mit anderen verbündet, erzählt. Damit knüpft „Ein simpler Eingriff“ an aktuelle Debatten um Machtstrukturen, Emanzipation und Deutungshoheit an. Lara Sielmann

  • Hanser Berlin, 192 S., 22 €

„Brunnenstraße“ von Andrea Sawatzki: Tiefe Abgründe

„Brunnenstraße“ von Andrea Sawatzki Foto: Piper

Kurz nach dem achten Geburtstag geschieht, worauf sich Andrea so gefreut hat: Ihre Mutter und sie ziehen zum leiblichen Vater nach Vaihingen an der Enz. Die Hoffnung aufs schöne Leben erledigt sich schnell, Vater Günther hat Alzheimer, das Geld ist zu knapp. Schnell wird aus dem Kind eine Krankenpflegerin, deren Lebensfreude zu bröckeln droht unter der radikalen Belastung. Die zunehmende Kraft der Tochter steht der zunehmenden Schwäche des Vaters gegenüber, die Abgründe sind tief. Andrea Sawatzki erzählt in „Brunnenstraße“ Kindheit und Jugend, klar und ungeschönt. Eine schwere Geschichte über Verantwortung, aber auch über die Liebe zur Familie. Sebastian Scherer

  • Piper, 176 S., 20 €

„1922. Wunderjahr der Worte“ von Norbert Hummelt: Epochale Verdichtung

„1922“ von Norbert Hummelt Foto: Luchterhand

Der Berliner Autor Norbert Hummelt blickt gebannt auf das Jahr 1922. Für ihn eine Zeitenwende der Literatur, ein Annus mirabilis. Auf der einen Seite die Trümmer des Ersten Weltkrieges, Inflation, Hungersnot, neue Machtergreifungen, die bedrohlich ihre Schatten vorauswerfen. Auf der anderen Seite erlebt die Welt aus dieser Not und Finsternis wie Phönix aus der Asche eine Art Auferstehung und epochale Verdichtung. Mit James Joyce „Ulysses“ und T. S. Eliots Gedicht „The Waste Land“ („Das wüste Land“) entstehen – flankiert von anderen Größen wie Rilke, Pound, Mansfield – „radikal neuartige Werke“. Hummelts „1922. Wunderjahr der Worte“ ist ein differenziert leidenschaftliches Buch, gelegentlich jedoch eine Spur zu autobiografisch. Andreas Burkhardt

  • Luchterhand, 414 S., 22 €

„Die Diplomatin“ von Lucy Fricke: Stille Siege

„Die Diplomatin“ von Lucy Fricke Foto: Ullstein

Man lasse sich keinesfalls vom Titel täuschen, der so sexy klingt wie ein zuklappender Leitz-Ordner. Mit „Die Diplomatin“ ist Lucy Fricke nach „Töchter“ (2018) wieder mit trockenem Sprachwitz in großer Pageturner-Form. Friederike „Fred“ Andermann, Ende 40, ist gerade als Botschafterin in Montevideo angekommen und eigentlich vor allem mit der Ausrichtung des Festes zum Tag der Deutschen Einheit befasst, da wird ein deutscher Instagram-Star entführt. Diese ist die Tochter einer brettharten deutschen Nachrichtenmagazin-Herausgeberin, die Fred auch umgehend einen Reporter auf den Hals schickt. Erste Diplomatie-Devise:„CYA“, so rät ein Kollege: „Cover your ass“. Klappt so semi. Auch in Istanbul, Freds nächster Station, hat sie jede Menge Ärger. Am Bosporus muss sie Barış helfen, dem die türkische Justiz vorwirft, ein Terror-Unterstützer zu sein. Dann gibt es einen Haftbefehl gegen ihn. Rasanter Roman von einiger politischer Aktualität, bei dem man zum Beispiel lernt: Diplomatie ist, wenn auch die Siege still sind. Erik Heier

  • Claassen, 256 S., 22 €

„Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz: Unter Nazis

„Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz Foto: Hanser Berlin

„Ich habe meinen ersten Nazi erwischt.“ Mit diesem Fausthieb beginnt das Romandebüt des „taz“-Reporters Daniel Schulz, in dem er in seine Jugend in den Nachwendejahren eintaucht. Der namenlose Ich-Erzähler erzählt vom Aufwachsen zwischen Plattenbau und Parkplatz in einem Kaff bei Potsdam. Die Ahnungslosigkeit seiner Generation trifft auf die Perspektivlosigkeit der Eltern, deren Landschaften nicht blühen, sondern erst einmal eingehen. Wo aber Halt und Orientierung fehlen und die Langeweile regiert, sammelt sich der Hass auf das Unbekannte. Schulz, Jahrgang 1979, zeigt mit seinem Alter Ego eindrucksvoll, wie verloren seine Generation durch die 90er taumelte. Er erzählt ohne moralische Wertung, wie aus aufgesetzten Gesten extreme Haltungen wurden und er lange nicht wahrhaben wollte, dass die Freunde aus Kindertagen längst Nazis waren. Thomas Hummitzsch

  • Hanser Berlin, 288 S., 23 €

„Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“ von Jakob Hein: Freies Denken

„Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“ von Jakob Hein Foto: Galiani Berlin

Ein Hypnotiseur, der jeden Wunsch erfüllt. Dafür, dass die Menschen in der DDR alle eine Westreise wollen, kann er ja nichts. Klar aber ruft das bald die Stasi auf den Plan. Einmal mehr erzählt Jakob Hein in seinem wahnwitzigen neuen Roman vom ganz normalen Leben im realsozialistischen Absurdistan. Weil sein launig-skurriles Buch aber gleichzeitig ein an Arthur Schopenhauer geschultes flammendes Plädoyer für den Eskapismus und die Welt des Geistes ist, hat er damit ganz nebenbei auch noch den Roman zur aktuellen Coronakrise geschrieben. Das Reisen ist während des Lockdowns wie damals in der DDR nicht möglich, dem grauen Alltag lässt sich nicht entkommen. Da bleibt einem ja nur die Flucht nach Innen. Welf Grombacher

  • Galiani Berlin, 208 S., 20 €

„Der Erinnerungsfälscher“ von Abbas Khider: Was wirklich war

„Der Erinnerungsfälscher“ von Abbas Khider Foto: Hanser

Von Bagdad nach Berlin. Und zurück. Said Al-Wahid, einst aus dem Irak geflohen, jetzt Schriftsteller, muss heim. Die Mutter liegt im Irak im Sterben. Hat es eilig, den Rest der Familie im Jenseits wiederzusehen. Wie den Vater, der unter Saddam Hussein hingerichtet wurde. Während Said zurückreist, setzt er die Erinnerungen an seine eigene vierjährige Flucht immer wieder anders zusammen, dabei spielt Süßkinds Buch „Die Taube“ eine Rolle. Immer wieder versteht es der Berliner Schriftsteller Abbas Khider in seinen Büchern, eigene Erlebnisse (Folterknast, Flucht, deutsche Bürokratie) in komische wie poetische, surreale wie erschütternde Prosa zu übersetzen, zum Lachen, Weinen, Staunen. Vor allem zum Staunen. Erik Heier

  • Hanser, 125 S., 19 €

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