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Familien-Roman

„Die Allee“: Florentine Anders’ Roman über den Stalinallee-Architekten

Hermann Henselmann war der wichtigste DDR-Architekt. Seine Enkelin Florentine Anders erzählt in ihrem Roman „Die Allee“ faszinierend die Geschichte seiner Familie, wie er die Stalinallee (mit)plante – und den Fernsehturm erfand. Es ist aber auch ein Parforce-Ritt durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Frühere Stalinallee, heute Karl-Marx-Allee, im Frühjahr 1956: Roman über die Familie des DDR-Architekten Hermann Henselmann. Foto: Imago/frontalvision.com

Architekt Hermann Henselmann: Von der Stalinallee zum Fernsehturm

Ein „Turm der Signale“, schlank, kühn, 300 Meter hoch. Und oben auf dem dreieckigen Schaft eine Aussichts- und Restaurantkugel. So sieht die spektakuläre Idee für die sozialistische Umgestaltung des Zentrums von Berlin aus, der Hauptstadt der DDR, die der Chefarchitekt des Staates, Hermann Henselmann, Mitte 1959 präsentiert. Das Regierungshochhaus, das die Partei- und Staatsführung an dieser Stelle ersehnt, lässt er einfach weg.

Es ist „eine radikale Provokation“, wie Florentine Anders, Enkelin Henselmanns, in ihrem Mitte Februar erscheinenden Debütroman „Die Allee“ schreibt. Der visionäre Entwurf verschwindet in der Versenkung. Ende 1959 verliert Henselmann seinen Chefposten. „Es überrascht ihn nicht.“

Der Buchtitel verweist auf die Stalinallee, den ersten sozialistischen Prachtboulevard, der heute nach Karl Marx heißt. Ihre Architektur wird oft Henselmann zugeschrieben. Tatsächlich entwarf er die städtebauliche Klammer für den ersten Bauabschnitt, den Strausberger Platz und das Frankfurter Tor.

Weit verzweigte deutsche Geschichte(n): Havemann, Brecht, Krug, Biermann

Florentine Anders folgt in ihrem Roman aber nicht einfach der Spur der Steine. Sie blättert fesselnd die Biografien der großen, weit verzweigten Familie Henselmann auf, die auf verblüffende Weise nicht nur eng mit der Architekturgeschichte Berlins und Deutschlands verwoben ist, sondern der deutschen Historie des 20. Jahrhunderts. Von der Weimarer Republik und das Dritte Reich über die deutsche Teilung, den Kalten Krieg und Honeckers Kultur-Kahlschlag-Plenum des Zentralkomitees der SED von 1968 bis weit nach dem Mauerfall. Und wer dabei nicht alles mitunter nur kurz durchs Buch rauscht. Bertolt Brecht, Manne Krug, Brigitte Reimann, Wolf Biermann. Messe der Meister von gestern. Aber auch ein Überläufer – ein Bundeswehroffizier –, die junge DDR-Jazzszene und die erste ostdeutsche Kommune.

Chefarchitekt Ost-Berlins, Hermann Henselmann: ebenso eigenwillig wie biegsam. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-16383-0001 / Gielow / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE

Die Henselmanns sind verwoben mit der Familie von Robert Havemann, dem von der SED kalt gestellten Regimekritiker. Die Schwester von Henselmanns Frau Isi, Karin, ist mit Havemann verheiratet. Keine glückliche Ehe. In „Die Allee“ ist Treue eher optional.

Im Haus des Kindes, das Henselmann am Strausberger Platz errichtet, sind die Wohnungen der Familien nur eine Etage voneinander entfernt. An einem Dienstagmittag im Januar schaut Florentine Anders die Fassade hoch. Dort oben haben sie zeitweise gelebt, gefeiert und auch gelitten, die drei Hauptfiguren ihres Buches. Henselmann, seine Frau Isi und Isa, eines der acht Kinder des Paares, Florentine Anders’ Mutter.

Wir wollen eigentlich die Allee in Richtung Alexanderplatz entlanggehen. Ein bisschen durch Florentine Anders’ Buch defilieren. Vom Haus des Kindes bis zum Haus des Lehrers mit dem Fries von Walter Womacka. Ikonische Henselmann-Bauten der sozialistischen Moderne. Aber der Wintertag bleibt bitterkalt. Berlin im Januar ist kein Spaziergang. Also ab zum Italiener.

Henselmann-Enkelin Florentine Anders: Erinnerungen an den Großvater

Florentine Anders, 1968 in Berlin geboren, mit ihrer Mutter Isa siebenmal in Berlin umgezogen, schreibt als Journalistin vor allem über Bildungsthemen. Ursprünglich hatte sie ein Sachbuch im Sinn gehabt, dann alles wieder umgeschmissen. Ein wichtiger Ratgeber war ihr dabei der Schriftsteller Volker Kutscher, dessen Gereon-Rath-Romane die Grundlage der „Babylon Berlin“-Fernsehserie bilden.

Buchautorin Florentine Anders: „Man saß im Theater in der ersten Reihe und er kannte jeden“. Foto: Patricia Haas

Welche Erinnerungen hat Florentine Anders selbst an ihren Großvater, der 1995 kurz vor seinem 90. Geburtstag starb? „Vor allem die lustigen Sachen“, sagt Anders, Jahrgang 1968. Ein Spiel, das „Schlesische Lotterie“ hieß, mit Pfennigen, „er hatte immer so ein großes Glas mit Pfennigen“. Viele Theaterabende. „Man saß immer in der ersten Reihe und er kannte jeden.“ Oder wie er „total ausrastete“, als sie meinte,  nach drei Büchern genug von der Brecht-Lektüre zu haben. „Man kann nicht genug von Brecht gelesen haben“, habe er sie angeherrscht.

Der Stararchitekt hatte viel Wut in sich. Auch gegen Tochter Isa. Einmal flüstert er ihr zu: „Du machst alles kaputt mit deiner Dummheit, du zerstörst die Familie.“ Vorher ist sie in ihrer Verzweiflung am Frankfurter Tor vor einen Trabant gelaufen. Ein Hilfeschrei.

Roman „Die Allee“: sehr eindrücklichen Frauenfiguren

Nicht zuletzt hat „Die Allee“ mit Isi und Isa sehr eindrückliche, vielschichtige Frauenfiguren, die um Selbstbehauptung ringen, um Emanzipation. Es geht auch um Vergewaltigungen, fürchterliche Abtreibungen, um staatliche Willkür. So wird Isa einmal in eine „Tripperburg“ in Berlin-Buch eingesperrt, für sechs grausame Wochen. Wird brutal zwangsuntersucht. Tag für Tag.

Henselmann erscheint in „Die Allee“ als ebenso eigenwilliger wie biegsamer Architekt. So lenkt der Le-Corbusier-Bewunderer, auch auf Rat von Brecht, bei der Gestaltung des ersten Bauabschnitts der Stalinallee ein, nach harscher Kritik der Staatsführung an ersten Entwürfen. „Einige nennen es Verrat, er nennt es Hakenschlagen vor dem Gefressenwerden“, schreibt Anders. Und er sagt: „Wenn sie Scheiße wollen, baue ich ihnen die bessere Scheiße als alle anderen.“

Anders erklärt: „Das ist ja auch immer ein bisschen das Schicksal von Henselmann, dass er oft nur mit dieser Allee identifiziert  wird. Es ist ja gar nicht das, was seinem Ideal vom Bauen entsprach.“  Für ihn sei Architektur immer viel mehr gewesen, als Fassaden zu entwerfen. „Es geht nicht in erster Linie darum, wie ein Haus aussieht. Sondern wie die Menschen sich darin begegnen können.“

Nach einigen Jahren aus der Schublade geholt: Hermann Henselmann hatte die Grundidee für den späteren Fernsehturm. Gebaut hat er ihn nicht. Foto: Imago/Funke Foto Services

Henselmanns „Turm der Signale“ wird zum Fernsehturm

Henselmanns „Turm der Signale“ wird wenige Jahre, nachdem er in der Schublade verschwand, dann doch, in etwas anderer Form, gebaut. Nicht von ihm jedoch.

Aber irgendwie sieht Florentine Anders, wenn sie jetzt auf den Fernsehturm blickt, immer auch ihren Großvater.

  • Florentine Anders: „Die Allee“ Galiani Berlin,  352 S., 24 €, ab 13.2.;
  • Buchpremiere PlaceOne Panorama Bar Berlin, Strausberger Pl. 1 , Friedrichshain, Do 13.2., 19.30 Uhr, 8/5 €

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