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Begegnungsprojekt

Fünf Jahre „Weiter Schreiben“: Literatur über alle Grenzen

Fünf Jahre „Weiter Schreiben“: Das außergewöhnliche Berliner Literatur-Begegnungsprojekt bringt Exil-Schriftsteller:innen mit deutschsprachigen Literat:innen zusammen: Pegah Ahmadi mit Monika Rinck, Salma Salem mit Sasa Stanišić. Denn für die Autor:innen aus den Krisengebieten ist eines überlebenswichtig: das Weiter Schreiben. Zum Jubiläum gibt’s ein eindrucksvolles Hörbuch. Thomas Hummitzsch hat sich das Projekt für uns angesehen.

Fünf Jahre „Weiter Schreiben“ mit Tandem-Partner:innen Ulla Lenze (l.) und Rabab Haidar. Foto: Stefan Kulisch

Fünf Jahre „Weiter Schreiben“: Unser aller Ort Hierdort

„Hier? Dort? Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der dies getrennt werden kann. Hier ist dort und dort ist hier. Hierdort ist unser aller Ort geworden“, schrieb Marica Bodrožić im vergangenen Juli an eine junge Afghanin, die sich Batool nennt. Batool musste fliehen, als die Taliban das Land übernahmen. Zu dem Zeitpunkt stand sie in Kontakt mit der kroatisch-deutschen Schriftstellerin, ein Kunstprojekt hatte sie zusammengeführt.

Seit 2017 Jahren bringt „Weiter Schreiben“ Autor:innen, die geflüchtet sind oder sich auf der Flucht befinden, mit deutschsprachigen Autor:innen zusammen und veröffentlicht ihre Texte. Die künstlerische Leitung hat die in Berlin lebende Schriftstellerin Annika Reich inne. 2015 engagierte sie sich vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) für geflüchtete Menschen und wollte mehr tun. „Ich habe einige syrische Autorinnen in Berlin gefragt, was sie brauchen und wollen. Alle haben gesagt: Wir wollen weiter schreiben“, erinnert sie sich bei einem Kaffee in Berlin-Mitte an die Anfänge.

Dieses Bedürfnis nahm sie ernst. Monate nach Angela Merkels „Wir schaffen das“ gründete sie mit anderen Engagierten den Verein „Wir machen das“ und startete unter dessen Dach das Projekt „Weiter Schreiben“. Eine Anthologie (mit Lina Muzur und Annika Reich sprachen wir 2018 über das Projekt) und fünf Jahre später erscheint nun ein Hörbuch der besonderen Art, das zeigt, wie die Welt durch Literatur zu dem Hierdort wird, von dem Bodrožić schreibt. Fast zehn Stunden füllen die interkulturellen und intellektuellen Begegnungen, die die Gegenwart einfangen, vielsprachig das Wort feiern. Die bewegen und berühren, aufwühlen und erschüttern, die klüger, aber auch nachdenklicher machen. Die den Geist forttragen, den Blick weiten, das Ohr zur Welt hin öffnen.  

Das Eintauchen in fremde Sprachräume

Von Oud-Klängen begleitet taucht man ein in fremde Sprachräume, lauscht der Kunst des Rezitierens in den Originalsprachen, „ein Vergnügen, das wir festhalten wollten“, so Reich. Von dort folgt man den gelesenen und sich gegenseitig befruchtenden Korrespondenzen der Tandems, die – wie bei Batool und Marica Bodrožić – mal höchst existenziell und dann wieder ganz von Kunst und Literatur bewegt sein können. Etwa bei der iranischen Lyrikerin Pegah Ahmadi und Monika Rinck (die 2015 den Kleist-Preis gewonnen hatte) oder bei Joachim Sartorius und dem jemenitischen Dichter Osama Al-Dhari, die sich jeweils über die (politische) Kraft der Poesie unterhalten. Die afghanische Journalistin Freshta Ghani denkt mit Daniela Dröscher über die Bedrohung schreibender Frauen für patriarchale Regime nach. Und während die syrische Dichterin Widad Nabi an Annett Gröschner schreibt, dass die Seele auch im Exil ein Wolf bleibt, „der jede Nacht heult“, denkt Sasa Stanišić über das erleichternde Lachen der syrischen Autorin Salma Salem nach.

Erotik und Heinrich Böll

In Briefen, Kurzgeschichten und Gedichten erkunden die Autor:innen, wie sich ihr Erleben der Welt in ihr Denken und Schreiben schleicht. Das kann mal schwermütig sein, aber auch ironisch leicht oder surreal verdreht. So sei das auch bei den Lesungen, erzählt Reich. Wichtig sei ihrem Team dabei immer, dass es nicht die ganze Zeit um Krieg und Folter geht. „Denn in den Texten geht es auch um Erotik oder Heinrich Böll. Uns ist wichtig, dass die Autor:innen nicht auf ihr Schicksal und ihre Erlebnisse festgenagelt werden.“ Syrische, afghanische, kurdische oder irakische Autor:innen seien schließlich „keine Nachrichtenagenturen ihres Landes, sie wollen wie alle anderen Menschen auch witzig sein dürfen oder übers Kochen reden“, betont Annika Reich.

Fünf Jahre Weiter Schreiben: Mit-Initiatorin Annika Reich. Foto: Jenifer Endom

Deutlich wird immer, dass das Schreiben sie am Leben hält. Batool gab nach ihrer erfolgreichen Flucht ins Exil zu erkennen, „dass die Briefe ihr Anker waren. Sie sagte: Solange da draußen noch jemand meine Briefe liest, bin ich nicht tot“, erinnert sich Reich. Ihr größter Wunsch wäre, „dass es das Projekt nicht mehr geben muss“. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Bis Jahresende läuft die Finanzierung, wie es danach weitergeht, ist noch offen. Für Autor:innen in Kriegs- und Krisengebieten hat Annika Reich jetzt dennoch „Weiter Schreiben Mondial“ ins Leben gerufen, um Menschen eine Stimme zu geben, die sich nicht in Sicherheit retten können. Mit dabei sind auch vier ukrainische Autor:innen.

  • Weiter Schreiben – (W)Ortwechseln. Literarische Begegnungen mit Exil-Autor:innen mit Saša Stanišić, Salma Salem, Ali Abdollahi, Max Czollek, Dima Al-Bitar Kalaji, Julia Schoch, Ulrike Almut Sandig, Fady Jomar, Tanja Dückers, Galal Alahmadi, Lena Gorelik, Yamen Hussein, Nora Bossong, Rasha Habbal, Kristine Bilkau, Omar Al-Jaffal, Olga Grjasnowa, Samuel Mago, Rabab Haidar, Ulla Lenze, Nino Haratischwili, Lina Atfah u.v.a., Der Hörverlag, 9 Std. 51 Min., 27 €
  • Hörbuch-Premiere & Jubiläumsparty Literaturhaus Berlin, Fasanenstr. 23, Charlottenburg, Fr 13.5., 19 Uhr, Eintritt frei, mit Anmeldeticket

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