Helene Hegemann hat einen neuen, furiosen Berlin-Roman vorgelegt: „Striker“ handelt von einer Kampfsportlerin, einer rätselhaften Frau kurz vor der Obdachlosigkeit und einem Sprayer. Wir sprachen mit der multitalentierten Berliner Künstlerin über Schmerz, Mixed Martial Arts mit Elon Musk, die Verrückten und die Träumer am Schlesischen Tor, den Ausverkauf Berlins – und ob man sich besoffen Tattoos stechen lassen sollte. Spoiler: Ja.

Helene Hegemann: „Kampfsport grenzt an Romantik“
tipBerlin Frau Hegemann, welches Verhältnis haben Sie zu körperlichem Schmerz?
Helene Hegemann Auslegungssache. Sich Schmerzen unter kontrollierten, selbstbestimmten Bedingungen auszusetzen, kann in Zeiten, in denen Menschen nicht mehr den geringsten Hauch politischer Handlungsfähigkeit empfinden, offenbar kathartisch sein. Du kannst die Welt nicht verändern, aber deinen Körper. Und Sparring ist das Gegenteil von einer Schlägerei. So wie S&M wahrscheinlich das Gegenteil von Folter ist, damit kenne ich mich aber zu wenig aus.
tipBerlin In Ihrem neuen Roman „Striker“ trainiert die Hauptfigur, die Kampfsportlerin N, für einen Wettkampf, harte Schläge stoisch zu ertragen. Allein beim Lesen dieser Passagen tut mir selbst schon was weh.
Helene Hegemann Ich interessiere mich für Kampfsport als Kulturtechnik. Zwei Menschen kämpfen, in einer Intensität, die an Tötungsabsicht heranreicht – dann ertönt irgendeine Sirene oder jemand schreit Stopp, und die beiden liegen sich plötzlich in den Armen. Grenzt an Romantik.
Helene Hegemann: 30 Sekunden auf ein Kissen eindreschen
tipBerlin Sie haben selbst Kampfsport betrieben?
Helene Hegemann Sieben Jahre lang. Aber nie exzessiv.
tipBerlin In einem Instagram-Tutorial dreschen Sie 30 Sekunden lang auf ein Kissen ein.
Helene Hegemann Während Corona, ja. Als Reaktion auf die vielen Mindfulness-Tutorials, die zu dieser Zeit kursierten. Wenn Mindfulness irgendwo gefördert wird – dann im Kampfsport. Kaum eine andere Tätigkeit zwingt einen so sehr in die Gegenwart, in den Kontakt und die beim Yoga so beweihräucherte Verbundenheit zum Rest des Universums. Du kannst 20-mal in die gleiche Yogaklasse gehen, ohne in ein einziges Gesicht blicken zu müssen. Diese Isolation gelingt dir nicht, wenn das Training darin besteht, sich mit Wildfremden minutenlang auf dem Boden zu wälzen.
Helene Hegemann über Mixed Martial Art, Mark Zuckerberg und Elon Musk: Tech-Bros im Gladiatorenkampf
tipBerlin Mixed Martial Arts ist seit geraumer Zeit ein Modetrend. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ist auch Fan. Der hat sich dabei allerdings das Kreuzband gerissen.
Helene Hegemann Und zwar beim Training für einen Kampf gegen Elon Musk. Ich finde es bezeichnend, dass die Tech-Bros, deren erklärtes Ziel darin besteht, ihre Seelen auf Festplatten zu verbannen und körperlos zu existieren, auf einmal zum archaischen Gladiatorenkampf neigen. Eine Sehnsucht nach echter Begegnung. Es gibt ein sehr passendes Zitat von meinem Vater (Carl Hegemann, langjähriger Dramaturg an der Volksbühne, Anm. d. Red.): „Digitale Geschlechtsumwandlung ist schön, reicht aber nicht.“
tipBerlin N sieht mit acht Jahren im Fernsehen, wie Lennox Lewis Mike Tyson besiegt. Damit beginnt ihre Begeisterung für den Kampfsport. War das bei Ihnen ähnlich?
Helene Hegemann Bis Mitte 20 interessierte ich mich kaum dafür, fand Kämpfe im Fernsehen ähnlich archaisch und bekloppt wie viele meiner Freunde. Ich hatte aber immer eine große Faszination für die Bewegungsabläufe. Als Teenager habe ich viel getanzt. Der erste Moment, der mich tief beeindruckt hat, war eine Jiu-Jitsu-Braungurtprüfung, in der zwei Leute, beide bereits komplett erschöpft, parallel zueinander 15 bis 20 Kämpfe bestreiten mussten, jeweils eine Minute lang. Die Trainingspartner schlugen nacheinander auf diese Jungs ein. Es ging wirklich nur um Durchhalten. Um das Aufstehen, nachdem man ohnmächtig geworden war. In einer Welt, in der sich alle bei der geringsten Missempfindung gegenseitig verklagen, setzen sich Leute einander plötzlich Schmerzen aus, um sich stärker zu machen. Mir wurde bei diesen Kämpfen die Tiefe der zwischenmenschlichen Begegnung bei diesem Sport bewusst. Das hat mich sehr beeindruckt, tut es bis heute.
Hegemanns Unerschrockenheit in der Literatursendung „Long Reads“: „Sich den Respekt vor Fäusten abtrainieren“
tipBerlin In der ARD-Literatursendung „Longreads“, in der Sie vergangenes Jahr mit jeweils einem Gast über Bücher sprachen, simulierte die Boxerin und Autorin Zeina Nassar Schläge in Richtung Ihres Kopfes. Sie zuckten nicht einmal. Respekt!
Helene Hegemann Reine Gewöhnungssache, das geht automatisch. Das würde sich auch bei Ihnen nach drei Trainingssessions einstellen. Ich empfehle jedem, das mal auszuprobieren – wenn auch nur, um sich den Respekt vor Fäusten abzutrainieren.
tipBerlin Ihr Buch durchzieht ein ständiges Bedrohungsgefühl. Dies spürt N, als Ivy, eine junge Frau an der Schwelle zur Obdachlosigkeit, bei ihr vor der Tür steht. Diese behauptet, mit einem Sprayer namens „Striker”, dessen Tags überall in der Stadt auftauchen, in Ns Wohnhaus einzuziehen.
Helene Hegemann Es war essentiell wichtig, dass N professionelle Selbstverteidigung betreibt und eine körperlich unterlegene Person vor sich sitzen hat. Weil es nicht um eine gerechtfertigte Angst vor dem Außen geht. Sondern um eine Angst vor etwas anderem. Vor sich selbst. Davor, die Feinde in sich selbst zu erkennen. Die Angst, durch eigenes Versagen plötzlich zu dem zu werden, was man verabscheut.
Grenzbereich Schlesisches Tor: Partytouristen, PR-Berater und die völlig Isolierten
tipBerlin Das Buch spielt oft am Schlesischen Tor.
Helene Hegemann Ich habe dort gelebt, nicht lange. Das Schlesi kam mir nicht nur wie ein Grenzbereich zwischen Ufer und Wasser vor, sondern wie ein Grenzbereich zwischen Barbarei und Zivilisation. Da sammeln sich zwischen den Partytouristen und PR-Beratern die völlig Isolierten, die nur noch mit ihren Dämonen kämpfen. Und wenn man genau hinsieht, erkennt man diese Verhaltensweisen in den vermeintlich Gesunden wieder. Die Verrückten und die Träumer zieht es ja laut „Moby Dick“ immer in Richtung Wasser. Ich bin dort einer psychotischen Frau auf der Grenze zur Obdachlosigkeit begegnet, mit der ich verwechselt hätte werden können – das war ausschlaggebend für diesen Roman.
tipBerlin Ihr bislang letzter Roman, „Bungalow”, erschien vor sechseinhalb Jahren, zuletzt las man von Ihnen den Story-Band „Schlachtensee“ und ein sehr persönliches Essay über Patti Smith und Christoph Schlingensief. Warum jetzt wieder ein Roman?
Helene Hegemann Ich bin eines Morgens aufgewacht und der Sprayer Paradox Paradise, auf dem die Figur des Striker basiert, hatte die Brandmauer vor meinem Fenster mit Zeichen zugemalt. Kam mir plötzlich wie ein Ausgangspunkt für eine Story vor, in der sich die schwer zu benennenden Stimmungen in diesem Viertel umkreisen und verdichten lassen würden.
Berlin hat für Helene Hegemann etwas von einem Ex-Heroin-Chic-Model: „Aber ganz im Ernst: Man hat hier viel Glück“
tipBerlin Sie schreiben auch über Verschwörungsmythen: „Untergang Europas, Kriegsausbruch, Massenüberwachung.“ Ns Coach Jürgen rät N, sich ein Konto in der Schweiz zuzulegen. Beschäftigt Sie die Frage nach einem Ort, an den Sie fliehen könnten?
Helene Hegemann Das ist schon zum Cocktail-kompatiblen Einstiegsthema für Smalltalk geworden: Wo gehst du hin? Ich habe dieses Gespräch bestimmt mit 50 Leuten geführt. Von denen haben nur zwei gesagt: Bevor ich abhaue, denke ich erst mal darüber nach, ob das Abhauen mit meinen Werten vereinbar ist.
tipBerlin Nachdem Ihre schwerkranke Mutter, bei der Sie höchst prekär in Bochum aufwuchsen, an einer Gehirnblutung starb, zogen Sie mit 13 zu Ihrem Vater nach Berlin. Wäre die Stadt für Sie jetzt, mit Anfang 30, immer noch ein guter Zufluchtsort?
Helene Hegemann Tatsächlich ja. Und das sage ich im vollsten Bewusstsein darüber, dass die Stadt etwas von einem Ex-Heroin-Chic-Model hat, das jetzt mit jedem ins Bett geht, der ihr ein Stück Land abkauft. Hier findet ja ein Ausverkauf statt, der immer farbloser wird. Und trotzdem, ganz im Ernst: Man hat hier schon immer noch ziemlich viel Glück. Mir fällt kein vergleichbarer Ort ein.
Helene Hegemanns Volksbühnen-Tattoo: „In Amerika haben das alle für eine rennende Pizza gehalten“
tipBerlin Ab 2026 übernimmt Matthias Lilienthal die Volksbühne. Haben Sie sich eigentlich auf die Intendanz beworben?
Helene Hegemann Um Gottes Willen, nein.
tipBerlin Echt wahr, dass Sie sich besoffen das Räuberrad der Volksbühne tätowieren ließen?
Helene Hegemann Ja. In Amerika haben das alle für eine rennende Pizza gehalten. Es ist schlecht gestochen, viel zu tief, wie ein Knast-Tattoo. Gefällt mir natürlich.
tipBerlin Wie kam es überhaupt dazu?
Helene Hegemann Bert Neumann (der legendäre Bühnenbildner der Volksbühne, Anm. d. Red.) war gestorben, und statt einer Trauerzeremonie wurde sein Geburtstag postum gefeiert, das ganze Haus war offen. Und irgendwo saß der nicht minder betrunkene Sohn des Grafikers irgendeines verfeindeten Theaters mit seiner Tätowiermaschine herum.
tipBerlin Was ist heikler: Besoffen tätowiert zu werden oder besoffen etwas zu posten?
Helene Hegemann Ein Post hat das sehr viel größere Zerstörungspotential, oder nicht?
Über Helene Hegemann und ihren Roman „Striker“
- Zur Person Helene Hegemann, 1992 geboren, ist Schriftstellerin („Axolotl Roadkill“, „Bungalow“, „Schlachtensee“) und Filmemacherin („Torpedo“, „Axolotl Overkill“). Sie inszeniert auch für Oper und Theater. Im vergangenen Jahr hostete sie die Literatursendung „Longreads“.
- Helene Hegemann: „Striker“ Kiepenheuer & Witsch, 192 S., 23 €
- Buchpremiere Szenische Lesung mit Lavinia Wilson, Marie Rosa Tietjen, Daniel Zillmann, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz 1, Mitte, Fr 14.3.2025, 20 Uhr, 18/9 €
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