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Helene Hegemann über ihr Buch „Schlachtensee“: Koksen, Liebe und Natur

Helene Hegemann veröffentlicht ihr neues Buch „Schlachtensee“. Mit uns spricht sie über ihren ersten Story-Band, mysteriöse Whatsapp-Häkchen, Inspiration durch den Film, „Short Cuts“, 45-mal Angst und 15-mal Hoffnung, Speed mit Rattengift und Koksen zu zehnt auf dem Behinderten-Klo, die Kategorie „krass“, das Glück der Ineffizienz und wahnsinniges Bügeln, seit sie 30 ist.

Helene Hegemann über ihr Buch „Schlachtensee“: immer nah am Wasser. Foto: Joachim Gern

Helene Hegemanns „Schlachtensee“: Brutaler, neuer Akt der Sprache

tipBerlin Frau Hegemann, wir reden in einem Café am Schlachtensee, Ihr erster Story-Band heißt „Schlachtensee“, aber was darin gar nicht vorkommt, ist: Schlachtensee.

Helene Hegemann Der ursprüngliche Titel war ein Symbol. Und zwar die Lesebestätigung von Whatsapp – zwei blaue Häkchen. Ein brutaler, neuer Akt der Sprache, der in der zeitgenössischen Literatur praktisch null bespielt wird. Du schreibst jemandem: „Ich liebe dich.“ Und zurück kommt nur, um wieviel Uhr derjenige es gelesen hat. Zwei Häkchen. Sonst nichts.

tipBerlin Oh ja, sowas ist wirklich nicht schön.

Helene Hegemann Tja, nachdem ich Whatsapp aus bestimmten Gründen gelöscht hatte, kam mir das zu sehr nach Relikt vor. Und weil die Geschichten außer konkreten, personellen Überschneidungen gemeinsam haben, dass sie am Wasser spielen – Wolga, Nil, Stausee in Brandenburg –, habe ich es nach dem Wasser benannt, an dem ich große Teile des Buches geschrieben habe.

tipBerlin Sie haben bislang drei Romane veröffentlicht, und zuletzt ein Buch über Patti Smith. Warum jetzt Geschichten?

Helene Hegemann Mich hat sehr diese Raymond-Carver-Verfilmung von Robert Altman beeindruckt.

tipBerlin „Short Cuts“ von 1993 hat viele Figuren, die fast nichts miteinander zu tun haben.

Helene Hegemann Zuerst konnte ich mir die Gründe dafür, dass man so intensiv dranbleibt an diesen willkürlich zusammengewürfelten Episoden, nicht erklären. Auf den ersten Blick sind die Figuren durch Zufallsbegegnungen verbunden, ihre Storys bauen nicht aufeinander auf, trotzdem ist man dazu aufgefordert, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Dann habe ich ein Interview mit Altman gelesen, in dem er behauptet, der einzige Zusammenhang zwischen diesen Geschichten sei, neben der Melancholie, der Ketchup. In jeder Szene liegen kleine Ketchup-Tütchen auf dem Tisch. Und die bedeuten für ihn Amerika. Klingt bizarr, ich begreife so eine Aussage aber wirklich tausendmal besser als durchkalkulierte, herkömmliche Storylines.

Hegemanns erster Story-Band: Düstere Gesellschaftsgemälde in grellen, herabtropfenden Farben

tipBerlin In einem Podcast haben Sie gesagt, beim Romanschreiben hätten Sie immer eine Phase panischer Verzweiflung. Kriegt man bei 15 Geschichten dann 15 Panik-Phasen?

Helene Hegemann Sehr gute Frage. Phoebe Waller-Bridge hat auf die Frage, was Schreiben für sie bedeute, geantwortet: „Fear, Fear, Hope“. Ich würde das noch um ein drittes Mal „Fear“ ergänzen, also, ja, 45-mal Angst und 15-mal Hoffnung.

tipBerlin Ihre Storys wirken auf mich wie düstere  Gesellschaftsgemälde in grellen, herabtropfenden Farben. Da gibt es einen Marxisten mit 15 Autos, eine elitäre Menschenrechtsanwältin, einen verstörten Kunstexperten. Und: Speed mit Rattengift, Koksen zu zehnt auf einem Behindertenklo, eine Gruppenvergewaltigung in Kabul.

Helene Hegemann Es sind aber auch viele schöne Naturbeschreibungen drin!

„Sie fragen, ob ich einen Hang zu Übertreibungen habe?“

tipBerlin Und Liebesgeschichten, die ans Herz gehen! Aber Sie drehen gern den Effekt-Verstärker voll auf, oder? Da sterben Eltern ja nicht einfach nur. Die werden geköpft.

Helene Hegemann Es gibt aber auch einen Vater, der hat stinknormalen Prostatakrebs. Sie fragen, ob ich einen Hang zu Übertreibungen habe, weil ich denke, es reicht sonst nicht?

tipBerlin Manche Dinge im Buch sind nun mal einigermaßen krass.

Helene Hegemann Da müsste man mal versuchen, „krass“ als Beurteilungskategorie wegzudenken. Ich bin ja darauf trainiert, nicht auf Glättung zu achten, sondern die Widersprüchlichkeit herauszuarbeiten und ins Extrem zu treiben. Jedes einzelne Schicksal, zum Beispiel ihres (zeigt auf eine junge Frau am Nebentisch), ist maximal krass. Sie können das Telefonbuch aufschlagen, irgendwo draufzeigen, anrufen. Bei demjenigen sind wahrscheinlich nicht die Eltern geköpft worden, aber es wird ihm irgendwann etwas passiert sein, das eine vergleichbare Angst vor Vernichtung in ihm hervorgerufen hat.

tipBerlin Ein Zitat: „Dabei vermischt sich so eine spezielle, ironisierte Porno-Laszivität mit dem Gesichtsausdruck, der an sechsjährige Jungs mit Furzkissen erinnert.“ Wie kommen Sie  bloß immer wieder auf derart kühne Kontext-Kurven?

Helene Hegemann Assoziativ und intuitiv. Ob die sich lohnen, weiß ich aber natürlich auch nicht. Das Buch ist mit der Hand geschrieben. Der Vorgang bestand darin, sich ohne festgesetztes Ziel zwei Stunden am Tag hinzusetzen und aufzuschreiben, was einem durch die Birne rauscht. Ich wollte die Arbeit so ineffizient wie möglich gestalten, als eine Art Gegenmodell zu allen Anforderungen, die an moderne Menschen gestellt werden. Und das hat erstaunlich gut funktioniert.

Helene Hegemann über Oligarchen, kriminielle Ex-KGBler und offene Briefe: „Wir wissen es doch auch nicht so genau“

tipBerlin In der längsten Geschichte geht es um einen Oligarchen und eine Frau, die bekennt: Ich liebe Russland. Was mit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt auch einen aktuellen Dreh kriegt.

Helene Hegemann Begonnen habe ich damit 2019, es geht um die deutsche Faszination für Oligarchen. Vielleicht auch um die Infiltration krimineller Ex-KGBler, denen nichts anderes übrig bleibt, als die Schattenseiten des westlichen Systems zu perfektionieren.

tipBerlin Hatten Sie jemals den Impuls, einen von diesen offenen Briefen zu unterzeichnen?

Helene Hegemann Nein. Ich dachte, ich initiiere mal selber einen: „Wir wissen es doch auch nicht so genau.“

Hegemanns viel diskutiertes Debüt „Axolotl Roadkill“ von 2012: „Jetzt, wo ich endlich ein 30-jähriger Mann bin“

tipBerlin Ihren Debütroman „Axolotl Roadkill“ wollten Sie mit 18 unter dem Pseudonym eines 30-jährigen Mannes veröffentlichen. Gab’s jetzt den Impuls, „Schlachtensee“ als 18-Jährige rauszubringen?

Helene Hegemann Jetzt, wo ich endlich selbst ein 30-jähriger Mann bin? Auf keinen Fall! Das geht ja auch nach oben: „50-jähriger Jurist“… Spiele ich immer mit dem Gedanken, mache ich dann nie, wird auch einen Grund dafür geben.

tipBerlin Sie sind im Februar 30 geworden. Big Deal für Sie?

Helene Hegemann Es ist schon ein Zeichen, dass ich wie eine Wahnsinnige meine Anziehsachen bügele. Habe ich vorher nicht getan, wirklich nie.

Helene Hegemann: „Ich lese keine Bücher von Schriftstellern, in sozialen Medien unterwegs sind“

tipBerlin Warum findet man Sie nicht auf Twitter?

Helene Hegemann Da bin ich nur heimlich. Und ich lese grundsätzlich auch keine Bücher von Schriftstellern, die in sozialen Medien unterwegs sind. Kann ich einfach nicht.

tipBerlin Und Sie haben wirklich nie auch mal Bock, sich mit Leuten auf Twitter zu battlen? Shitstorm-proof sind Sie ja, seit Sie 18 sind.

Helene Hegemann Vollkommen richtig. Genau deswegen geht davon für mich auch nicht die geringste Faszination aus.

  • Schlachtensee. Stories von Helene Hegemann, Kiepenheuer & Witsch, 272 S., 23 €
  • Buchpremiere mit Max Gruber (Drangsal), Mara Moya, Albrecht Schuch, Marie Rosa Tietjen, Daniel Zillmann Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte, Mo 20.6., 20 Uhr, 14/9 €.
  • Wir verlosen 2×2 Tickets für die Buchpremiere, schickt uns bis Freitag, 17. Juni 2022, 14 Uhr, eine Mail mit Betreff „Hegemann“ an [email protected]. Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Zur Person

Helene Hegemann, 30, legte 2010 mit 18 Jahren ihren Debütroman „Axolotl Roadkill“ vor, der viel Radau machte. Es gab Hymnen, Verrisse und eine Plagiatsdebatte. Bei der Verfilmung „Axolotl Overkill“ führte sie 2017 selbst Regie. Ihr dritter Roman „Bungalow“ (2018) war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ab 28. Juni ist bei RTL+ ihre Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Geschichte „Subotnik“ zu sehen.


50 Jahre tipBerlin, Exberliner 20 years: Die große Jubiläumsparty im Haus Zenner

Das Gespräch mit Helene Hegemann ist dem tip-Berlin Heft 12/22 entnommen, dessen Titelgeschichte sich mit 50 Jahre tipBerlin und der großen Jubiläumsparty am 18. Juni im Haus Zenner beschäftigt, die wir zusammen mit unseren Freund:innen vom ExBerliner feiern, die ihrerseits 20 Jahre alt sind. Unter anderem mit Live-Auftritten von Wallis Bird, Lie Ning und Sam Vance-Law und einem DJ-Set von DJ Hell. In unserem Webshop könnt ihr das Heft kaufen und hier Tickets für die Party.


Mehr Literatur in und aus Berlin

Das literarische Begegnungsprojekt „Weiter schreiben“ bringt seit fünf Jahren Exil-Schriftsteller:innen mit deutschsprachigen Literat:innen zusammen. Ronja von Rönne hat einen Roman über zwei depressive Frauen, die ungewöhnliche Umstände gemeinsam in ein Auto setzen, geschrieben. Ein Gespräch über ihre Road-Novel „Ende in Sicht“. Hier kriegt ihr Nachschub für eure Leselust: besondere Buchhandlungen in Berlin. Die tip-Übersichtsseite für Literatur in und aus Berlin: Aber lest doch selbst.

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