Der Berliner Bürgerrechtler und Jurist Bijan Moini entwirft in seinem Debüt „Der Würfel“ eine Welt von morgen, in der alle Daten offen liegen – und die meisten Menschen damit glücklich sind
Es gibt Dinge, von denen hat man noch nie gehört. Aber wenn es soweit ist, wundert man sich nicht einmal ansatzweise über ihre Existenz. „Legal Technologie“, also technische Hilfsmittel, die Rechtsanwälte überflüssig machen, gehört zu solchen Dingen. Als sich der Jurist Bijan Moini in einer Wirtschaftskanzlei mit diesen Möglichkeiten auseinandersetzt, stellt er sich die Frage, wovon künftig Menschen leben werden, deren geistige Arbeit nicht mehr benötigt wird. Das Ergebnis seiner Überlegungen ist sein lesenswerter Debütroman „Der Würfel“, dessen Hauptfigur von dieser Entwicklung betroffen ist. Denn weil er als Anwalt nicht mehr gebraucht wird, revidiert er in einer nicht näher definierten Zukunft die „Instaurteile“ des Würfels.
„Der Würfel“ ist die oberste Instanz in der Gesellschaft, die in dem gleichnamigen Roman beschrieben wird. Jeder Einzelne kann sich entscheiden, ob er sich in die Würfel-Gesellschaft einbringt oder sich ihr entzieht. Diese Freiwilligkeit unterscheidet diese helle Zukunftsvision von dystopischen Klassikern wie George Orwells „1984“ oder Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. „Der Würfel macht den Menschen folgendes Angebot: Seid vollkommen transparent, offenbart euch mir voll und ganz, dafür kümmere ich mich um euch“, erklärt Moini. Zudem finanziert er den Menschen ein Grundeinkommen, das umso höher ausfällt, je mehr man von sich preisgibt. Die eigentliche Währung in der Würfel-Gesellschaft ist die Vorhersehbarkeit menschlicher Handlungen. „Deshalb hat jeder einen Predictability-Score, und es gibt zahlreiche Anreize, den Pred-Score zu erhöhen, sich also vorhersehbar zu verhalten.“
Taso, die Hauptfigur des Romans, hat sich trotz aller Verlockungen gegen den Kubismus entschieden. Er gaukelt dem System ein falsches Leben vor, um sein wahres Ich vor dem Würfel zu verbergen. Das ändert sich, als die junge Dalia auftaucht und ihn um Hilfe bittet. Zwischen beiden entspinnt sich eine zarte Lovestory, die dazu führt, dass sich der junge Gaukler in die kubistische Gesellschaft integriert, während der Widerstand im Hintergrund längst am großen Umsturz des Systems arbeitet.
Eine dezidierte Kritik an der Datensammelwut des Würfels ist nur eine Option innerhalb der Erzählung. Sein Roman sei ein Gedankenexperiment, räumt Moini im Gespräch ein. Er habe „neutral und ohne Angst vor einem autoritären Staat oder einem bösen Riesenkonzern“ diskutieren wollen, was für eine Gesellschaft möglich ist, wenn die Möglichkeiten der Datenverarbeitung zugunsten der Allgemeinheit eingesetzt würden. Und anders als in Dave Eggers’ „The Circle“ hat seine Vision durchaus ihren Reiz. Da ist von digitalem Lifting die Rede, und unangenehme Informationen können über „SmEyes“ und „SmEars“ ausgeblendet werden. Dass derlei digitale Helfer in unserer Gegenwart Wirklichkeit werden, hält Moini keineswegs für unwahrscheinlich. In welcher Zukunft genau dieser spannend geschriebene Plot spielt, will der Autor nicht festlegen.
Irgendwann zwischen zehn und fünfzig Jahren unserer Zeit voraus, sagt er. Handlungsort ist Berlin, könnte aber ebenso gut Hamburg oder München sein.
Wichtig sei aber, dass es eine deutsche Stadt ist, „weil bestimmte Vorbehalte, die wir gegenüber der Preisgabe unserer Daten haben, spezifisch deutsch sind“. Diese Vorbehalte will Moini gar nicht infrage stellen, im Gegenteil. Der Rechtsexperte der Gesellschaft für Freiheitsrechte wünscht sich, dass bei seinen Lesern eine Achtsamkeit entsteht, die sie kritischer gegenüber den Technologien der Gegenwart macht. Auf die Frage, ob es dafür nicht eher eine klassische Dystopie bräuchte statt dieser Zukunftsvision, in der alles zugunsten der Allgemeinheit läuft, antwortet der Berliner salomonisch: „Beim Lesen darf sich jede und jeder gerne bewusstmachen, dass es viel wahrscheinlicher nicht ganz so optimal läuft und wir unser Verhalten besser auf eine negativere Entwicklung ausrichten sollten.“
Der Würfel von Bijan Moini, Atrium Verlag, 406 S., 22 €;
Buchpremiere: Lettrétage, Methfesselstr. 23–25, Kreuzberg, Di 5.3., 20 Uhr, Eintritt frei