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Interview

Hendrik Bolz über sein Buch „Nullerjahre“: Ossis, Speed, Rap

Hendrik Bolz, eine Hälfte des Berliner Rap-Duos Zugezogen Maskulin, erzählt in seiner Autobiografie „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“ vom Aufwachsen in der Nachwendezeit im Osten Deutschlands. Ein Interview über Ossis, Speed, Springerstiefel, Gangsterrap und das Recht des Stärkeren.

Rapper Hendrik Bolz alias Testo ist eine Hälfte des Berliner Rap-Duos Zugezogen Maskulin. Foto: 
Greta Baumann
Hendrik Bolz alias Testo ist eine Hälfte des Berliner Rap-Duos Zugezogen Maskulin und hat sein Buch „Nullerjahre“ veröffentlicht. Foto: Greta Baumann

Hendrik Bolz: „Ossis“ waren für mich immer die anderen

tipBerlin Herr Bolz, Sie wurden 1988 geboren und sind in Stralsund aufgewachsen. Wann ist Ihnen so richtig bewusst geworden, woher Sie kommen?

Hendrik Bolz Ich habe das lange gar nicht bemerkt. Klar wusste ich immer, dass ich aus Ostdeutschland komme, aber „Ossis“ waren für mich immer die anderen. Ich hatte ja schon als Jugendlicher nach Westberlin geschaut und mich an der Rap-Szene dort orientiert. Erst als ich nach der Schule nach Berlin gezogen bin, wurden mir die Unterschiede zu anderen Leuten in meinem Wohnheim klar, die zum Beispiel nicht die Gewalterfahrung wie ich hatten. Und ich weiß noch, dass wir im Studium mal eine Diskussion über Frauenquoten in Führungsgremien hatten, die ich überhaupt nicht verstanden habe. Für mich war es ganz normal, dass Frauen gleichberechtigt arbeiten.

tipBerlin Sie haben schon 2019 in einem Essay in der Wochenzeitung „Der Freitag“ von Gewalterfahrungen in Ihrer ostdeutschen Jugend erzählt. Der Journalist Christian Bangel hat daraufhin den Hashtag  #Baseballschlägerjahre initiiert. Wie erleben Sie die Debatte um diese Zeit?

Hendrik Bolz Mir ist eines im Zuge der Debatte so richtig klar geworden. Wenn die Wendekinder, die Generation vor meiner, über die Gewalt dieser Zeit sprechen wollten, wurde ihnen oft gesagt: „Du übertreibst, das stimmt alles nicht, so kannst du doch nicht über den Osten reden.“ Das war richtiges Gaslighting. Es hat mich überrascht, zu realisieren: Da gibt’s eine Lobby, die das alles nicht besprochen haben will.

tipBerlin Wen meinen Sie mit „Lobby“?

Hendrik Bolz Zum einen wollte man nach der Wende dringend nötige Investoren nicht abschrecken, aber es gibt auch noch eine andere Ebene – da muss ich etwas ausholen. Wenn ich in Interviews über das Buch rede, merke ich oft, dass manche Leute aus dem Westen nur ein bestimmtes Besteck haben, um über den Osten reden. Die glauben, „die da drüben“ sind alle Nazis, mit meinem Buch hätte ich das nochmal untermauert, und überhaupt: Ich sei ja auch ein Nazi gewesen. Wenn der Westen aber die ganze Zeit nur auf ostdeutsche Zustände herabschaut und alle eigenen negativen Anteile dorthin auslagert, verstehe ich es schon, dass die Menschen dort sagen: Den braunen Peter wollen wir uns nicht auch noch zuschieben lassen, wir sollten lieber über die guten Seiten des Ostens sprechen, sonst lacht sich nur der dumme Wessi ins Fäustchen. Aber so kommt man nicht weiter.

Berliner Rap-Duo Zugezogen Maskulin mit Hendrik Bolz (r.) alias Testo und Moritz Wilken alias grim104 m 9. November 2019 anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls. Foto: Imago/snapshot-photography/M.Czapski

tipBerlin Wo hapert es da beim Verständnis? Was übersehen Westdeutsche, wenn sie Ihnen unterstellen, ein Nazi gewesen zu sein?

Hendrik Bolz Beim Hashtag #Baseballschlägerjahre geht es ja um die 90er. Ich war damals ein Kind, und als Kind denkt man, die Welt, in der man aufwächst, wäre die Normalität. Dass auf den Spielplätzen gruselige Männer mit Bomberjacke und Springerstiefeln rumhingen, war für mich normal. Ich dachte, so sehen eben Jugendliche aus, und auch der Hitlergruß war für mich eine völlig entkernte Geste. Obwohl wir uns nicht als ausländerfeindliche Neonazis verstanden haben, ist das Vokabular und der Wertekanon der Vorgängergeneration unbewusst auch bei uns eingesickert. Im Gangsterrap dieser Zeit hab ich das alles dann auch wiedergefunden, und der war ja keine ostdeutsche Erfindung.

Hendrik Bolz: Hätte ich einen Roman geschrieben, wäre es ein sanfteres Buch geworden

tipBerlin Im Buch schildern Sie, wie die „akzeptierende Jugendarbeit“ der 90er Ihre Generation beeinflusst hat, die lieber Bushido als Böhse Onkelz gehört hat: In den Nullerjahren haben die Neonazis, die in Ihrer eigenen Teenagerzeit herzlich im Jugendzentrum aufgenommen wurden, als Erzieher die Kids im Ferienlager bespaßt.

Hendrik Bolz In den 90ern ist so viel hochgekocht, das in der DDR gedeckelt wurde. Wie sollte man mit einer Jugendkultur umgehen, die gerade so ein Momentum hatte? Wenn man allen Nazis die Tür vor der Nase zuschlägt, sitzt der Sozialarbeiter halt irgendwann allein in seinem Club. Ich verstehe die Idee schon, aber dabei hat man eben viele Menschen ausgegrenzt, die in dem Moment viel dringender Hilfe gebraucht hätten, außerdem wurden diese Räume von rechten Strukturen dann auch ausgenutzt. Jugendarbeit im Ostdeutschland der 90er wäre eigentlich ein Job für hochgerüstete Vollprofis gewesen, aber in der Zeit ist einfach zu vieles zu schnell passiert.

tipBerlin Aktuell erscheinen einige Romane, die sich mit der ostdeutschen Nachwendezeit befassen, zum Beispiel „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz (siehe S. 82). Warum haben Sie sich dagegen für die Form der Autobiografie entschieden?

Hendrik Bolz Es hat mir Spaß gemacht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erforschen, in denen meine Geschichte passiert ist. Interessant ist auch: Hätte ich „nur“ einen Roman über meine Erlebnisse in der Zeit geschrieben, wäre es vielleicht ein sanfteres Buch geworden, weil ich immer Angst gehabt hätte, dass die Leute sagen: Das glaubt dir kein Mensch! Aber das ist alles wahr, das ist alles real gewesen. Ich habe mich beim Schreiben ab und an auch mit Freunden aus der Zeit über dieses Erschrecken darüber ausgetauscht, was für Dinge da so passiert und wie seltsam fremd die Erinnerungen sind. Ein Kumpel von mir meinte, wenn er sich an die Zeit zurückerinnert, kommt es ihm manchmal vor, als erinnere er sich an einen Film.

tipBerlin Zu Beginn des Buchs beschreiben Sie, wie unsicher Sie sich mit Ihrem Habitus nach dem Umzug nach Berlin fühlten, weil Sie plötzlich von friedlichen Studis umgeben waren. Wie lange hat diese Verunsicherung angehalten?

Hendrik Bolz Ich bin in Berlin noch lange mit Boxerschnitt und Härteansprüchen mir selbst gegenüber rumgelaufen. Selbst nachdem ich mein erstes Studium in den Sand gesetzt habe, dachte ich noch: Das sind doch eh alles Pisser an der Uni. Es hat eine Weile gedauert, bis ich eine Therapie angefangen habe – wegen der Panikattacken, die ich seit meiner Jugend hatte. Und dann begann die Hipster-Phase in Berlin, in der plötzlich Rapper wie Casper das Coolste überhaupt waren. Dann wollte ich zu diesen Leuten gehören. Ich habe gar nicht erforscht, wer ich eigentlich wirklich sein will – Hauptsache, ich kann die alte Identität abstreifen. Letztendlich war auch das ein Holzweg. Erst nach und nach ist das Selbstbewusstsein gekommen, zu sagen: Vielleicht bin ich gleichzeitig ein Spießerstudi und ein asozialer Ostdeutscher, und vielleicht hab ich sogar noch zehn Identitäten mehr.

Henrik Bolz über den Einfluss seiner Jugend auf Zugezogen Maskulin

tipBerlin Was haben Sie in Berlin gelernt?

Hendrik Bolz Meine Kindheit war geprägt davon, dass der Stärkere Recht hat. Vom Gefühl: Hier gibt’s keinen, der für Ordnung sorgt. In den 90ern war die neue Ordnungsmacht noch nicht etabliert und aus unserem „Du sollst nicht petzen“ im Kindergarten wurde später auch „Man geht nicht zur Polizei“. Das habe ich erst in Berlin gelernt: Wenn einem jemand etwas antut, wird er vielleicht ja auch bestraft, man muss nicht alles selbst regeln. Das war revolutionär für mich. 

tipBerlin Wie beeinflusst Ihre Jugend die Musik von Zugezogen Maskulin?

Hendrik Bolz Ich würde mich dämlich dabei fühlen, mich hinzustellen und zu sagen: Yo, ich bin der Ostrapper, und ich erzähl̓ euch jetzt wieder und wieder vom Plattenbau. Diese Geschichten sollten heute vielleicht die Leute erzählen, die dort wirklich noch wohnen. Aber diese Story, wie ich mit meiner Jugendprägung nach Berlin gezogen bin und da inmitten von „Spex“-Lesern ungelenk versucht habe, meine Rolle zu finden – die findet man in unserer Musik schon immer wieder.

  • Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften von Hendrik Bolz, Kiepenheuer & Witsch, 336 S., 20 €,
  • Lesung (im Rahmen des „Popsalon“): Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Mitte, Di 1.3., 21.15 Uhr, evtl. Restkarten a.d. Abendkasse

Dieses Interview stammt aus dem tipBerlin 4/22, den ihr in unserem Webshop erwerben könnt. In der Titelgeschichte würdigen wir die verstorbene Stereo-Total-Sängerin Françoise Cactus anlässlich ihres ersten Todestags: Interview mit ihrem Partner Brezel Göring, persönliche Erinnerungen von radioeins-Musikchefin Anja Caspary, Essay über die Einzigartigkeit von Stereo Total in der Berliner Musikszene.


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