In ihren preisgekrönten Büchern durchdringt Jenny Erpenbeck meisterlich die (ost-)deutsche Geschichte – auch in ihrem neuen Roman „Kairos”. Wir haben die vielfach ausgezeichnete Berliner Schriftstellerin getroffen. Ihr Buch handelt von einer ungleichen Liebesbeziehung in der DDR in den 1980er-Jahren.
Jenny Erpenbeck: DDR-Sammlung im Gästezimmer
In ihrem Gästezimmer: die DDR. Verpackungstüten von „Haushalts-Graupen, Mittel, 519 g“, von „Grießsuppe, 0,60 Mark“. Eine Trabant-Bestellung vom „IFA-Betrieb Berlin.“ Schulmilchtüten, „0,25 l“. Eine ganze Wand nimmt diese DDR-Sammlung in der Altbauwohnung in Mitte ein. Reste in Pieces.
Im Frühjahr 1990 begann Jenny Erpenbeck, 1967 in Ost-Berlin geboren, Kind einer generationsüberspannenden Schriftsteller:innenfamilie, Alltags-Artefakte aus dem untergehenden Land zu sammeln (hier haben wir euch ikonische DDR-Produkte zusammengestellt). Der „New Yorker“ überschrieb kürzlich ein langes, lobendes Porträt über sie mit „Jenny Erpenbeck is keeping time“.
Jenny Erpenbecks Bücher sind Tiefenbohrungen in die Geschichte
Ihre vielfach ausgezeichneten Bücher, gerade ist ihr neuer Roman „Kairos“ erschienen, sind Tiefenbohrungen in die deutsche, auch oder gerade: ostdeutsche Geschichte hinein, Schicht für Schicht. Von einem Ausgangspunkt. Das kann ein Sommerhaus an einem märkischen See sein kann, in dem sich ein Dutzend Biografien von der Weimarer Republik über die DDR bis zu den Nachwendejahren verschachteln („Heimsuchung“, 2008). Oder ein Mädchen, eine Frau, eine Greisin, die Kapitel für Kapitel stirbt und dann, im nächsten Kapitel, dann doch weiterlebt, im galizischen Schtetl, in Wien, in Stalins Arbeitslager, in der DDR als hochdekorierte Schriftstellerin, Erpenbecks Großmutter Hedda Zinner ist hier die Inspiration („Aller Tage Abend“, 2012 – damals befanden wir: „Herausragend“).
Ausgerechnet ihr vielleicht erfolgreichster Roman „Gehen, ging, gegangen“ (2015), in dem ein emeritierte Professor sich den Flüchtlingen am Oranienplatz annähert, fällt mit seiner vergleichsweise tagesaktuellen Rechercheform etwas aus diesem Muster. Mit dem neuen Roman „Kairos“, sagt sie, sei sie „zurückgegangen zu dem inneren Rhythmus, den ich vorher hatte“.
Erpenbeck-Roman „Kairos“: Ost-Berlin, 1986 – Katharina trifft Hans
Später Dienstag-Vormittag, ein Café am Arkonaplatz. Die Sonne bescheint den kleinen Außentisch. „Leiser!“, bittet Jenny Erpenbeck gleich zu Beginn des gut einstündigen Gesprächs. „Ich fühle mich sonst so…“ Sie lässt den Satz in der Luft hängen, lacht.
„Kairos“ ist in der griechischen Mythologie der Gott des glücklichen Augenblicks. Ost-Berlin, 1986. Katharina, 19, erwischt den Bus noch, weil der Busfahrer nochmal die Tür öffnet. Und sieht ihn. Hans, über 50, Schriftsteller, verheiratet. 34 Jahre älter als sie. Sie gehen noch am selben Abend miteinander ins Bett. Sein Ehebett. Am 11. Juli 1986.
Der Roman beginnt jedoch Jahrzehnte später. Mit Hans‘ Tod. Und mit Katharina, die Briefe, Kalender, Tagebücher durchblättert. „Flachware”, wie Archivare sagen. Seine in zwei Kartons, ihre in einem Koffer. Darin „liegen Ende, Anfang und Mitte gleichgültig nebeneinander im Staub der Jahrzehnte …“, wie es im Buch heißt.
Mechanismen von Macht, Zuweisung von Schuld
Virtuos montiert Jenny Erpenbeck die Zeitebenen aneinander, in einer „vertikalen Schichtung“, sagt sie, wie in der Musik von Bach, „dieser Blick in der Tiefe, wo sich verschiedene Melodien im Moment treffen, dadurch, dass sie übereinander gelagert sind“.
In einer dieser „Engführungen“ schneidet sie Wolf Biermann, der „mit traumwandlerischer Unsicherheit (…) aus seinem Land hinausgestürzt“ ist, gegen die Entjungferung Katharinas durch ihren ersten Freund. Jenny Erpenbeck sagt: „Was mich immer interessiert hat, auch in diesem Buch, ist diese Parallelität zwischen privaten und politischen Beziehungsstrukturen: die Mechanismen von Macht, die Zuweisung von Schuld.“
Aus Liebe wird Wahn, aus Sex Gewalt. Und der Staat taumelt
Einmal schläft Katharina mit einem anderen Mann. Und Hans dreht durch. Die Beziehung wird toxisch. Er bespricht siebenmal dieselbe C-60-Kassette. Schickt sie ihr. Mit Anklagen. Aus Liebe wird Wahn. Aus Sex Gewalt. Und rundherum der Staat, der taumelt.
Erpenbeck gehört derselben Generation an wie Katharina. Die Straßen, in denen sie aufwuchs, endeten, das schrieb sie auch in ihrem Essay-Band „Kein Roman“ (2018), immer an der Mauer. In Pankow, in der Leipziger, in der Reinhardtstraße. Sie sagt: „Ich kenne niemanden, der die DDR so, wie sie war, zurückhaben wollte, aber …“ Lange Pause. „Karl Valentin hat mal diesen Satz gesagt: Die Zukunft war früher auch besser.“
Jenny Erpenbeck gilt in den USA als Nobelpreiskandidatin
Zunächst wollte sie „ganz bewusst“, nicht Schriftstellerin sein, lernte Buchbinderin, studierte unter anderem bei Ruth Berghaus Musikregie, inszenierte Opern. Und schrieb sich dann 1999 mit ihrem dann doch ersten Roman „Geschichte vom alten Kind“ sofort in die erste Liga der Literatur ein. Ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. „Washington Post“ und „New Yorker“ orakeln, sie könnte irgendwann den Literatur-Nobelpreis gewinnen.
Am Ende des Gesprächs ruft sie ihren Mann, den Dirigenten Wolfgang Bozic, an. Ob sie den tip-Reporter kurz in die Wohnung mitbringen könne? Sie will ihm noch schnell ihre „DDR-Sammlung“ zeigen.
Ja, klar.
- Kairos von Jenny Erpenbeck, Penguin Verlag, 384 S., 22 €
Mehr Literatur in Berlin
Immer lieber lesen: Unsere Tipps und Themen rund um Bücher findet ihr hier. Jenny Erpenbeck stellt ihr Buch beim Internationalen Literaturfestival Berlin vor. Hier sind weitere Tipps zum ilb. Der Tocotronic-Schlagzeuger Arne Zank hat einen Comic gezeichnet, es geht um schräge Vögel. Bücher kauft man natürlich am besten direkt in den Buchhandlungen: Hier werdet ihr in Berlin bestimmt fündig.