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Literatur über Klassismus: Warum das Unbehagen Thema der Stunde ist

Klassismus ist die Chiffre für neue Diskurse über Anerkennung und Abwertungen. Auch in der Literatur ist Klassismus das Thema der Stunde: Gerade erst ist der von Christian Baron und Maria Barankow herausgegebene Band „Klasse und Kampf“ erschienen. Es entstehen Texte über großes Unbehagen, die sich einem diffusen Begriff von vielen Seiten nähern.

Text: Julia Lorenz und Erik Heier

Christian Baron ist Mit-Herausgeber von "Klasse und Kampf", ein Band über Klassismus und das Ringen mit der eigenen Herkunft. Foto: Hans Scherhaufer
Christian Baron ist Mit-Herausgeber von „Klasse und Kampf“, ein Band über Klassismus und das Ringen mit der eigenen Herkunft. Foto: Hans Scherhaufer

Die gute, alte Klassenfrage ist zurück

Auf einmal wollten alle zurück nach Reims. Wollten den vermeintlich „Abgehängten“ in die Seele gucken, den Erfolg von Front National und AfD verstehen, die Wut der „einfachen Leute“, was auch immer das bedeuten sollte. Didier Eribons autobiografisches Sachbuch „Rückkehr nach Reims“ kam in Deutschland 2016 auf den Markt und traf einen Nerv, weil er in den Blick nahm, was man hier in Debatten lange ignoriert hatte: Einkommen und Habitus nämlich, Klassenbewusstsein und Kränkungen auf Grundlage der „feinen Unterschiede“, wie sie einst der Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat. Die gute, alte Klassenfrage.

Thomas Ostermeier brachte „Rückkehr nach Reims“ auf die Bühne, wir sprachen 2017 mit ihm darüber. Seit Eribons Erfolg denken auch in Deutschland immer mehr Sachbuch- und Romanautor:innen, aber auch Leser:innen über Klassenunterschiede nach. Vielleicht sind sie deshalb gewillt, etwa die Bücher der Berlinerinnen Anke Stelling („Schäfchen im Trockenen“) oder Katja Oskamp („Marzahn, mon amour“) als klassenbewusst zu lesen.

Aber trotz Begriffskonjunktur diskutiert man wenig über Umverteilungsfragen, dafür umso mehr über Anerkennung und Abwertungen. „Klassismus“ ist der Begriff der Stunde.

„Klasse und Kampf“: Biografische Blicke auf Klassismus

Dieser identitätspolitischen Bespiegelung des Klassenthemas ist der Sammelband verpflichtet, den die Ullstein-Programmleiterin Maria Barankow und der Autor Christian Baron nun gemeinsam herausgeben. „Klasse und Kampf“ ist, anders als der Titel vermuten lässt, keine Streitschrift.

Stattdessen nähern sich 14 Autor*innen dem Thema aus biografischer, meist literarischer, oft auch essayistischer Perspektive – unter ihnen eben Anke Stelling, Schorsch Kamerun, Sänger der Punkband Die Goldenen Zitronen, und auch Baron, der selbst in einem einkommensschwachen Haushalt groß geworden ist und davon Anfang 2020 im Buch „Ein Mann seiner Klasse“ erzählte.

Der „Kampf“ im neuen Titel meint hier nicht unbedingt politische Praxis, sondern das Ringen der Autor:innen mit der eigenen Herkunft, den ewigen Widerstreit zwischen einer Sozialisation am vermeintlichen Rande der Gesellschaft und dem neuen Leben als Klassenaufsteiger:innen, in dem sich viele fühlen wie Hochstapler:innen. „Du steckst zwischen zwei Dünkeln fest“, schreibt etwa Arno Frank. „Ein Arbeiter sieht deine Bücher und erkennt, dass du dich für etwas Besseres hältst. Eine Akademikerin sieht deine Bücher und erkennt, dass du es nicht bist. Beide haben recht, und beide irren sie sich.“

Eine diffuse Kategorie

Am stärksten aber sind die Texte, die greifbar machen, was am Thema Klasse so großes Unbehagen erzeugt – das diffuse, multidimensionale Wesen der Kategorie. Arm kann man schließlich an Kapital sein, an Bildung, an Respekt von anderen.

Olivia Wenzels Text über Klassismus in "Klasse und Kampf" zeigt, wie facettenreich der Begriff "Armut" sein kann. Foto: Imago/Tagesspiegel
Olivia Wenzels Text über Klassismus in „Klasse und Kampf“ zeigt, wie facettenreich der Begriff „Armut“ sein kann. Foto: Imago/Tagesspiegel

Wenn etwa die Schwarze Ich-Erzählerin aus Olivia Wenzels Geschichte „Kolbenkönige“ erzählt, dass sie beim Sprechen ins Thüringische kippe, wenn sie Leuten – ob Handwerker oder Späti-Betreiberin – zeigen wolle, dass sie sich „keinesfalls im Hochstatus“ ihnen gegenüber wähne; wenn also ein ostdeutscher Dialekt zum Klassenausweis wird, ist man irritiert: Was sagt das über Klischees und Zuschreibungen, wo sich doch Thüringen in Sachen Armutsgefährdung im Mittelfeld aller deutschen Bundesländer bewegt?

Bov Bjerg dreht den Spieß um

Während sich die Ich-Erzähler:innen in vielen Storys, etwa bei Lucy Fricke, für ihr mangelndes kulturelles Kapital schämen, wird in Bov Bjergs Geschichte der Spieß umgedreht: „Schinkennudeln“ ist erzählt aus Perspektive eines Arbeiterkindes, für den das Haus seines reichen Freundes kein Sehnsuchtsort ist. Vielmehr wundert er sich über die Abwesenheit eines Fernsehers, über die ganze bildungsbürgerliche, pietistische Staffage. Schließlich kotzt er der feinen Gesellschaft die Schinkennudeln, die seine eigene Mutter nach dem Rezept der reichen Hausherrin mit Joghurt und Muskat gründlich vergurkt hat („Klavierspielerschinkennudeln, Lateinlehrerschinkennudeln“), auf die edle Tafel. Immer hatte ihm die Mutter eingeschärft, er solle in diesem Umfeld bitte „Höf-lich blei-ben“, aber es hilft nichts: Das Leben der anderen schmeckt ihm nicht.

Die Tritte nach unten

Die Journalistin und Filmemacherin Julia Friedrichs liefert in ihrem Anfang März erschienenen Buch „Working Class“ gewissermaßen den mit Recherche fundierten  gesellschaftspolitischen Überbau zu „Klasse und Kampf“, wobei auch Friedrichs eigene biografischen Bezüge einstreut.

Die „Working Class“ zerfällt in Einzelteile, so Julia Friedrichs’ Einschätzung. Foto: Andreas Hornoff

Ihre Prämisse – die Generation nach den Babyboomern sei die erste seit dem Zweiten Weltkrieg, die hinter den Wohlstand ihrer Eltern zurückfallen werde – ist eigentlich nicht wahnsinnig neu. Nach dieser „Generation X“ benannte Douglas Coupland seinen bahnbrechenden, vor ziemlich genau 30 Jahren erschienenen Episodenroman.

Die „Working Class“, für die es laut Friedrichs im Deutschen keinen guten Begriff gibt (kleine Leute? Mittelschicht?) besteht, wie vor 100 Jahren, aus Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Es sind aber nicht mehr die Malocher:innen am Band, sondern auch strauchelnde Mittelschichtler:innen wie Alexandra und Richard, die an sechs Musikschulen unterrichten und doch kaum über die Runden kommen. Dienstleister:innen wie Sait, der seit 2002 Berliner U-Bahnhöfe putzt, und zu seinem 15-jährigen Dienstjubiläum nur einen Amazon-Gutschein bekam. Oder Manfred, der morgens in der Kneipe „Zapfhahn“ im Kellergeschoss des Karstadt am Hermannplatz als erster das Weizen hebt – und nach unten tritt, auf „die Ausländer“, „die Schwarzen“, „die Moslems“. Die „Working Class“, sie zerfällt in Einzelteile.

Und auf der anderen Seite: Privilegierte wie der adlige Vermögensverwalter für Superreiche, der tatsächlich, kannste dir nicht ausdenken, ein Nachfahre der Fugger ist, der reichsten Familie des Mittelaltes, und im eigenen Wald frohlockt: „Wald zu besitzen ist ein wunderbares Gefühl, wenn man hier die Verfügung darüber hat.“

Die Krise zeigt, wem der Totalschaden droht

Die Arm-reich-Schere geht seit den 80er-Jahren immer weiter auf. Friedrichs zitiert etwa den Soziologen Andreas Reckwitz, der in seinem Buch „Das Ende der Illusionen“ die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ als vergangene, gleichwohl „als nostalgische Erinnerung“ immer noch „erstaunlich lebendig“ sieht. Sie schreibt: „Die Erzählung des eigenen Lebens als gerade aufsteigende Linie ist gebrochen.“

In der Corona-Krise sei klar geworden, „wer ungepolstert gegen die Wand rauscht“: diejenigen, wo kein  Vermögen ein Airbag gegen die Unfälle des Lebens bildet. So droht der Totalschaden für die „Working Class“.

  • Klasse und Kampf von Christian Baron, Maria Barankow (Hg.), Claassen, 224 S., 20 €, digitale Buchpremiere am 13. April in der Volksbühne
  • Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können von Julia Friedrichs, Berlin Verlag, 320 S., 22 €
  • Let’s talk about Class Veranstaltungsreihe im Acud Macht Neu, am 15. April zum Thema „Hausfrau und Mutter“ mit Marlen Hobrack, Jacinta Nandi und Anke Stelling, mehr Infos hier

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Politisch ist es auch hier: Organisationen, Verlage und Projekte zu queerer Literatur. Die aktuellen Veröffentlichungen über Klassismus kauft ihr am besten in den schönsten Buchläden Berlins. Von der Mood her viel Berlin drin: Hengameh Yaghoobifarah über „Ministerium der Träume“.

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