Die beliebte Friedrichshainer Kiezbuchhandlung Lesen und lesen lassen muss zum 19. Oktober schließen. Der Grund: drastische Mieterhöhungen. Der Kiez wird wieder ein Stück ärmer. Und seelenloser. Auch die tipBerlin-Literaturredaktion ist entsetzt.
Friedrichshainer Kiezbuchhandlung Lesen und lesen lassen: Wenig Geld, viel Herzblut
Vor knapp zwei Jahren besuchte ich als Literaturredakteur des tipBerlin für eine Titelgeschichte mehr als ein Dutzend inhabergeführte Buchhandlungen in Berlin, eine davon war die wunderbare Friedrichshainer Kiezbuchhandlung Lesen und lesen lassen in der Wühlischstraße 30. Ich saß eine Stunde lang mit den beiden Betreiber:innen, Beate und Mischa Klemm, zusammen. Es war ein intensives, schönes Gespräch.
Wir sprachen über die Liebe zum Buch und zum Buchhandel, die Leidenschaft beim Schaufenster-Gestalten, die Funktion des Ladens als mentalen Ankerpunkt für die Menschen im Kiez und den wegen der Pandemie quasi ausgefallenen 25. Geburtstag der Buchhandlung im Jahr zuvor, diesem verflixten Jahr 2020. Beate Klemm erzählte, wie das Paar ein Vierteljahr nach der Geburt des ersten Kindes im Oktober 1996 die Buchhandlung, damals noch in einem kleinen Ladenlokal, eröffnete – und dass sie ein Jahr später bereits wieder schwanger gewesen sei. Und sie sagte lachend: „Es waren die 90er! Da ging alles in Berlin. Mit wenig Geld und viel Herzblut.” Man spürte ihre Energie, man spürte ihre Leidenschaft. Man wird nicht Buchhändler, um reich zu werden. Sondern um glücklich zu sein.
Kiezbuchhandlung muss wegen hoher „Marktmiete“ schließen
Jetzt haben Beate und Mischa Klemm auf Instagram mitgeteilt: „Wir müssen leider schließen.” Nach 28 Jahren Buchhandlungsbetrieb, davon 19 Jahren am aktuellen Standort in der Wühlischstraße. Mit einer Begründung, die sprachlos und wütend macht: „Wir haben seit einiger Zeit Nachfolger*innen für unseren Laden gesucht und zu Beginn des Jahres tatsächlich sehr kompetente und motivierte Buchhändlerinnen gefunden. Jedoch macht die bei den Mietvertragsverhandlungen von den Eigentümern geforderte ,Marktmiete‘ einen wirtschaftlichen Betrieb der Buchhandlung nicht mehr möglich.“ Knapp 3.000 Reaktionen löste dieser Post aus. Und hunderte Kommentare, aus denen Entsetzen spricht, Traurigkeit. Und viel Wut.
Der Vermieter ist eine Immobilien-Holding aus Berlin, die auf ihrer Webseite sich selbst einen starken Fokus auf die lokale Community attestiert („with a strong focus on the local community“). Nicht nur für die Stammkundschaft von Lesen und lesen lassen müssen diese Worte wie blanker Hohn klingen.
In der Titelgeschichte schrieb ich damals: „Ein Lieblingsregal im Laden heißt ,Kultur & Debatte’. Arbeit. Stadt. Gender. Politik. Soziologie. Geschichte. Der Kiez ist politisch aufgeladen, hier prallen die Gegensätze aufeinander, die Stadtentwürfe zwischen RAW-Viertel und Mercedes-Platz. Zwischen Party-Kultur und Kommerz.“
Letzter Verkaufstag am 19. Oktober: Der Kommerz hat gewinnen
Jetzt hat der Kommerz wieder einmal gewonnen. Der letzte Verkaufstag der Buchhandlung ist der 19. Oktober. Danach wird der Kiez, wird der Friedrichshain, wird Berlin wieder einmal um einen dieser so wichtigen Orte ärmer sein, die für Begegnungen und Herzenswärme stehen und nicht für Gentrifizierung und kalte Gier. Mit jedem dieser Orte, die durch die kalte Marktlogik der Immoblienbranche verschwinden, verschwindet ein Stück der Seele Berlins.
Alles Gute, Beate und Mischa Klemm.
Mehr Literatur in Berlin
Aus der Titelgeschichte über Buchläden im November 2022: ein Interview mit der damaligen Chefin des Buchladens Ocelot, Maria-Christina Piwowarski, über Bücherliebe und Lebenskrisen. Literatur an außergewöhnlichen Orten: Das Literaturhaus Berlin geht auf Tour. Unsere Empfehlungen für tolle Buchhandlungen in Berlin findet ihr hier. Unsere Literatur-Themen im Überblick gibt’s hier.