Die Schriftstellerin Lucy Fricke, die seit 25 Jahren in Berlin lebt, hat ihren ersten Berlin-Roman geschrieben: über einen Mann, der 50 wird – und an der Mitte seines Lebens leidet. Ein verdammt herzerwärmendes Buch – zu ihrem eigenen 50. Geburtstag. Wir trafen sie in Kreuzberg.
Lucy Frickes Roman „Das Fest“: Wird ein Mann 50 und leidet
Im Dezember geht’s rund. Dann kommt ihr 50. Geburtstag. Lucy Fricke sagt, es fühle sich für sie so an, als habe sie ihn schon hinter sich.
Ihr neuer Roman „Das Fest“ erzählt nämlich einerseits von Jakob und seinem, genau: 50. Geburtstag. Der ist ihm, dem Filmregisseur mit leicht vergilbtem Restruhm, ein Abgrund. Und ihm geht auf, „ein ganz und gar mittelmäßiges Leben geführt zu haben, nichts erreicht, nichts vollbracht, nichts hinterlassen, ein Leben ohne Spuren“.
Andererseits handelt das Buch von Ellen, Jakobs bester Freundin, aus der nie eine Geliebte wurde, es hat sich irgendwie nicht ergeben. Als hätten sie jahrelang aneinander vorbeigeliebt. Das scheinbar perfekte Paar im schier ewigen Konjunktiv.
Jakob hat „vor genau zweiundzwanzig Jahren mit dem Wünschen aufgehört“, wie es im Roman heißt. Weil Wünsche in Tragödien münden konnten. Während er den herben Hauch der Vergänglichkeit, der die Mitte des Lebens umweht, scheinbar fatalistisch hinnimmt, sich ihr gleichsam ergibt, ist Ellen, nur wenige Monate jünger als er, genau dazu nicht bereit, nicht mehr.
Was sie nämlich umtreibt: das Jetzt, das Hier. Nichts mehr verpassen. Keinen Sommer, keine Gartenparty, keine Einladung. Höchste Zeit, sich an das Leben zu verschwenden. Vor allem will sie Jakob, das greinende Geburtstagskind, „bei den Schultern packen“. Letzter Versuch. „Und alle wussten Bescheid.“
Cliffhanger, Kracher-Dialoge und Narben
Lucy Fricke hat jahrelang beim Film gearbeitet, mit Fatih Akin zum Beispiel, zuständig für Script/Continuity. Cliffhanger kann sie. Kracher-Dialoge erst recht. Wäre das Buch eine Serie, man würde sie sofort wegbingen wollen. An einem Tag.
An diesem 50. Geburtstag jedenfalls begegnen Jakob nacheinander, Kapitel für Kapitel, nur scheinbar zufällig mehrere verschütt gegangene Passanten seiner Biografie. Die ehemalige Freundin, die von einem anderen schwanger wurde. Oder der beste Freund, der einst von einem Dach stürzte, vor 22 Jahren, sich dabei verletzte. Und nur eine dürre Notiz hinterließ, bevor er verschwand. Aus Gründen.
So werden Wegmarken eines Lebens offenbar, in dem vieles nicht wurde, was es hätte sein können. Plötzlich liegen Wunden bloß, aus denen längst Narben wurden.
„Ich mag die Narben inzwischen deutlich mehr als die Wunden“, sagt Lucy Fricke, an einem Außentisch in einem Kreuzberger Café sitzend. Man müsse diese Narben irgendwann eben auch annehmen, „mit einem gewissen Stolz, vieles lässt sich eben nicht wegtherapieren, wegreden, wegschreiben.“
Um die Ecke: die Admiralbrücke. Es ist ein herbstschöner Donnerstag, der fast noch einmal übermütig dem Spätsommer zunickt. Bitte, geht doch, Kreuzberg.
Beim Titel des Romans, „Das Fest“ also, denkt man natürlich an den gleichnamigen Dogma-Film von Thomas Vinterberg, der, wie einem dann sofort mit leichtem Schauder aufgeht, auch schon mehr als 25 Jahre alt ist. Er kam ziemlich genau ein Jahr, bevor die gebürtige Hamburgerin Anfang Januar 2000 Knall auf Fall nach Berlin zog – ihre Traumstadt, sie hatte hier einen Onkel – in die deutschen Kinos.
Durchbruch mit der grandiosen Roadnovel „Töchter“
Lucy Fricke, dreifaches Hamburger Scheidungskind, mit Krisen früh befasst, wollte eigentlich immer nur eines: Schriftstellerin werden. Mit 16 hatte sie die Schule verlassen, schon früh Gedichte geschrieben. Als sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig angenommen wurde, riet man ihr zu Prosa statt Poesie.
Zwar gewann sie 2005 in Berlin den Nachwuchswettbewerb Open Mike, doch dauerte es zehn Jahre und drei mäßig erfolgreiche Romane, bis ihr 2018 mit der grandiosen Roadnovel „Töchter“ der Durchbruch gelang. Rund 100.000 verkaufte Exemplare, Hardcover und Taschenbuch zusammengerechnet.
„Ich kann immer noch schlecht Geld ausgeben“, sagt sie. „Wenn ich Urlaub mache, nehme ich trotzdem den Computer mit, um zu arbeiten.“ Als könne sie es sich selbst nicht gestatten, mal einfach nichts zu tun.
„Das Fest“, ihr sechstes Buch seit dem Debüt „Durst ist schlimmer als Heimweh“ von 2007, ist nun erstaunlicherweise ihr erster Roman, der ausschließlich in Berlin spielt. Der vorherige, „Die Diplomatin“, (2022) changierte beispielsweise zwischen Montevideo und Istanbul. Und in „Töchter“ waren zwei Freundinnen mit einem vorgeblich sterbenskranken Vater in einem Auto auf dem Weg in die Schweiz und kamen in Griechenland an. Das Buch wurde von ihrer Freundin Nana Neul mit Alexandra Maria Lara, Birgit Minichmayr und Josef Bierbichler verfilmt.
Eigentlich, erzählt Lucy Fricke im Café, wollte sie nach der „Diplomatin“, die sich sogar noch ein bisschen besser als „Töchter“ verkaufte, ein anderes Buch herausbringen, „für meine Verhältnisse einen epischen Roman“. Ein Jahr habe sie daran gearbeitet, sei aber über Seite zehn nicht hinweggekommen. Das eher schmale, dichte „Das Fest“ ist ein Nebenprodukt des Scheiterns, sozusagen.
Lucy Fricke hat sich dann bei der Arbeit am Text selbst die Aufgabe gestellt, „ein hoffnungsfrohes, lebensbejahendes Buch schreiben wollen“. Was sich als „schwierig“ erwies, wie sie verblüfft feststellte. „Etwas wirklich Positives zu schreiben, fand ich unwahrscheinlich erschöpfend.“
Sag Ja zum Leben mit 50
Mit wankelmütigen Männern um die 50, denen der Boden unter den Füßen wankt, beschäftigen sich gemeinhin eher wankelmütige Männer um die 50, denen der Boden unter den Füßen schwankt. Aber die weibliche Perspektive hat einigen Reiz. Nele Pollatschek hat zum Beispiel vor gut einem Jahr mit ihrem Roman „Kleine Probleme“ eine ähnliche Männerfigur geschaffen, die man den ganzen Tag nur wachrütteln möchte.
Auch Lucy Frickes Roman wippt mit melancholischer Leichtigkeit und einigen wilden Slapstikpassagen durchs Krisengebiet „Mann in der Mitte des Lebens“. Zum Beispiel trägt Jakob mehrere der persönlichen Ungeschicklichkeit geschuldete Verletzungen davon, bis er, wie es an einer Stelle heißt, aussieht, als habe er sich mit dem Leben geprügelt.
Fucking Fifty. Shades of Schmerz.
Ihren eigenen 50. Geburtstag will sie eher klein feiern. „Komischerweise mag ich inzwischen keine Partys mehr.“ Sie zieht an der Zigarette. Von der Admiralbrücke weht der Klang einer Gitarre herüber, die gerade gestimmt wird.
Irgendwann sagt Lucy Fricke noch, eines müsse sie unbedingt betonen: „Ich hasse Jammern.“ Jakob ist auch so ein Jammerlappen, zunächst. Der Subtext ihrer neuen Buch könnte heißen: „Höre auf zu jammern und fange an, das zu genießen, was du hast.“
Es ist eigentlich ganz einfach: Sag Ja zum Leben mit 50. Besser geht doch fast immer. Und Besser ist vielleicht: Genau jetzt.
- Lucy Fricke: „Das Fest“ Claassen, 144 S., 20 €
Mehr Literatur
Diese Superreichen: Julia Friedrichs spricht über ihr Buch „Crazy Rich“. Auch für Männer spannend: die neue FrauenLesbenBuchhandlung in Berlin. Die tip-Berlin-Literaturtexte im Überlick.