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Interview

Ocelot-Chefin Maria-Christina Piwowarski über Bücherliebe und Lebenskrisen

Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski hat mehr als 20.000 Follower auf Instagram, sie leitet den Buchladen „ocelot, not just another bookstore“ in Berlin-Mitte. Wir sprachen mit ihr über Bücherliebe, die man nicht faken kann, Lieblingsbücher, Lebenskrisen, Instagram-Ruhm, den Buchmarkt und den „tollsten Beruf der Welt“.

Maria-Christina Piwowarski leitet den Berliner Buchladen „ocelot, not just another bookstore“. Foto: Luka Godec

Maria-Christina Piwowarski: Seit zehn Jahren im Ocelot

tipBerlin Frau Piwowarski, was ist stressiger: Vorweihnachtszeit oder Deutscher-Buchpreis-Jury? 2020 waren Sie dort dabei.

Maria-Christina Piwowarski Buchpreis-Jury! Es gibt nichts in meinem Leben, das so stressig war. Und ich habe zwei Kinder gekriegt! Du weißt, du wirst in diesem Jahr nicht in den Urlaub fahren, du wirst kein Privatleben haben.

tipBerlin Ihr Jahr 2022 im Schnelldurchlauf: 40 geworden, Corona bekommen, Trennung vom Mann, Umzug in kleinere Wohnung.

Maria-Christina Piwowarski Und der Krieg, der uns alle trifft. Privat war es das wildeste Jahr meines Lebens, wobei ich auch schon viele wilde Jahre hatte. Aber es war auch so ein Jahr, wo ich dachte: Es rüttelt sich ganz viel zurecht.

tipBerlin Wie kamen Sie vor zehn Jahren ins Ocelot?

Maria-Christina Piwowarski Ich bin 2007 nach Berlin gezogen, habe bis 2010 die Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht, im März mein zweites Kind bekommen, habe Texte für Startups geschrieben. 2012 bin ich beim damaligen Gründer (Frithjof Klepp, Anm. d. Red.) in den Laden gestiefelt und habe gesagt, ich würde ihm das Weihnachtsgeschäft machen. Dann würde er sowieso nicht mehr ohne mich arbeiten wollen. Ich habe mich ins Ocelot verliebt.

tipBerlin Zwei Jahre später war das Ocelot allerdings insolvent, ein Schock für die Branche.

Maria-Christina Piwowarski Es war eine schwere Zeit, die Anfangsinvestition war wahnsinnig wacklig. Und dann standen wir alle auf der Straße. Die Presse schrieb, man könne so einen großen Laden nicht aufmachen, das Buch sei tot. Das stimmte einfach nicht! Direkt nach der Insolvenz sagte der neue Besitzer: Kommt doch bitte zurück!

tipBerlin Eine Heidelberger Firma mit bundesweit einigen Buchläden übernahm das Ocelot.

Maria-Christina Piwowarski Und es war relativ schnell klar, dass es jemanden geben muss, der sich vor Ort dafür verantwortlich führt. Ich hatte den Laden schon vorher so gehegt, als wäre es meiner.

Ocelot-Chefin Piwowarski über Lieblingsbücher: „Jedes Buch hier hat seine Berechtigung“

tipBerlin Wie viele Bücher von denen hier im Laden haben Sie selbst gelesen?

Maria-Christina Piwowarski Hier stehen 6.000, vielleicht 7.000 Titel. Vielleicht ein Siebtel. Bei manchen Büchern weiß ich, die verkaufen sich sowieso, die muss ich nicht lesen. Dafür lese ich dann Geileres, das sich nicht verkauft (lacht).

tipBerlin Wie macht man Kunden klar: Das Buch, das Sie da kaufen wollen, ist nichts für Sie?

Maria-Christina Piwowarski Indem man es sagt. Wenn ich ein Buch ausrede, kann ich drei andere verkaufen. Alle Bücher, die hier stehen, die habe ich eingekauft, oder die haben wir im Team beschlossen. Jedes Buch hier hat seine Berechtigung. Nichts steht hier zufällig. Deshalb bin ich sicher, dass dieser Laden genau das ist, was Leser:innen brauchen. Denn ich bin ja der größte Fan dieses Ladens.

Buchhandlung „ocelot, not just another bookstore“ in Berlin-Mitte: „Ich bin der größte Fan dieses Ladens“. Foto: Luka Godec

tipBerlin Welches Buch hat Sie zuletzt umgehauen?

Maria-Christina Piwowarski Marica Bodrožić, „Die Arbeit der Vögel“. Da begibt sie sich auf den Spuren Walter Benjamins über die Pyrenäen. Ich habe das so oft verschenkt, so viele Sätze unterstrichen. Danach gehst du mit anderem Blick durch die Welt, du gehst mit anderen Worten durch die Welt. Die Welt läuft anders durch dich hindurch. Ich will das Wort Erleuchtung nicht sagen, weil es furchtbar esoterisch ist… – aber: Es ist wirklich eine Erleuchtung!

tipBerlin Bitte noch ein aktuelles Lieblingsbuch!

Maria-Christina Piwowarski Wofür ich mir unfassbar viel Presse wünsche, ist „Rot (Hunger)“ von Senthuran Varatharajah. Weil ich finde, dass es es so kunstfertig, so brillant, so klug, so berührend ist. Auf der einen Ebene geht es um eine andere Erzählung der Geschichte, die als „Kannibale von Rotenburg“ in die Yellow Press eingegangen ist. Und auf der zweiten Ebene um eine Liebe, die scheitert. Jeder Satz vibriert und muss genau so da stehen.

tipBerlin Kannibale und Liebe. Wie verkauft sich’s?

Maria-Christina Piwowarski Das verkauft sich bei mir deswegen gut, weil ich so ein Fan davon bin. In diesem Laden gibt es Bestseller, weil ich diese Bücher liebe. Und Bücherliebe kannst du nicht faken. Die erwischt dich vom Text her. Und nur dann kannst du sie auch weitertragen.

„Die Leute brauchen Nudeln, Klopapier – und dann ein Buch“, sagt die Buchhändlerin

tipBerlin Es heißt immer wieder, der deutsche Buchmarkt schrumpfe, verliere Leser:innen.

Maria-Christina Piwowarski Seit ich denken kann, wird diese Branche totgesagt. Dann gab’s den E-Reader. Und Amazon! Ich lache da immer drüber. Es gibt deutschlandweit bestimmt Standorte, wo es schwieriger ist. Aber gerade in Berlin sind wir umzingelt von großartigen Buchhandlungen mit tollen Sortimenten, mit charakterstarken Händler:innen. Mich ärgert natürlich jeder, der bei Amazon einkauft. Das ist eine politische Entscheidung! Aber ich will lieber in den Vordergrund stellen, warum es sinnvoller ist, den Buchhandel zu unterstützen.

tipBerlin In Berlin durften Buchläden im Lockdown offenbleiben. So wichtig sind sie!

Maria-Christina Piwowarski Die Leute brauchten Nudeln, brauchten Klopapier – und dann brauchten sie ein Buch.  Woran hältst du dich fest? An Büchern! Das Buch ist immer die Lösung.

tipBerlin Sie haben den Ruf, Deutschlands reichweitenstärkste Buchhändlerin zu sein.

Maria-Christina Piwowarski Das ist nicht nur ein Ruf, das ist so! (lacht) Ich habe sehr viel Feminismus studiert, bis ich diesen Satz so einfach über die Lippen bringen konnte.

tipBerlin Auf Instagram folgen Ihnen mehr als 20.000 Leute. Sie veranstalten dort Literatursprechstunden, zum Beispiel.

Maria-Christina Piwowarski Ich habe tatsächlich Instagram immer unterschätzt, auch privat nicht genutzt. Dann habe ich gemerkt, was für eine wahnsinnig literaturverliebte Community es auf Instagram gibt. Wenn ein Gesicht zu sehen ist, wo ein Austausch möglich ist. Das funktioniert am besten, wenn ich mit einer Flasche Weißwein vor den Regalen entlanggehe.

Brauchen Bücherhändler:innen mehr Rockstar-Attitüde?

tipBerlin Man hört Sie auch im Radio bei den „Radioeins-Literaturagenten“, Sie moderieren oft Lesungen, im Laden, auch online. Und wirken dabei immer verdammt souverän.

Maria-Christina Piwowarski Das ist alles „Fake it ‘till you make it!“ Auch bei Premieren. Ich mache mir davor richtig in die Hosen! Die Ehrfurcht vor Dingen, die größer ist als man selbst. Mir hilft das immer, wenn auch Autor:innen bei Lesungen wahnsinnig aufgeregt sind. Weil ich weiß, ich muss sie supporten und darf mich nicht in meine eigene Aufregung fallen lassen.

tipBerlin Brauchen Buchhändler:innen eigentlich auch etwas mehr Rockstar-Attitüde?

Maria-Christina Piwowarski Wir sind immer ein bisschen Snobismus-gefährdet. Natürlich gibt es gute und schlechte Literatur. Aber der Mensch hat ein Recht, sich durch Lesen zu entspannen, zu erholen, auch in Liebesschnulzen fallen zu lassen! Aber Rockstar ist auch wichtig: zu zeigen, dass das der tollste Beruf der Welt ist!

„Wir müssen über die Brüche im Leben reden!“

tipBerlin Im vergangenen Sommer schrieben Sie über Ihre harte Zeit als Gasthaus-Zimmermärchen in einem „Kaff am Oderhaff“ mit Anfang 20 als alleinerziehende Mutter eines Babys auf Instagram. Warum?

Maria-Christina Piwowarski Mir folgen viele Frauen, die wahnsinnig bewegte Leben führen, sich oft schlecht fühlten mit den Brüchen in ihrem Leben, das Narben hinterlassen hatte. Die nicht darüber reden. Aber wir müssen über diese Brüche reden! Denn wir haben sie alle.

tipBerlin Ihre Mutter war 18 bei Ihrer Geburt. Aufgewachsen bei Großeltern in der Magdeburger Börde. Schule geschmissen. Mit der ersten Liebe nach Schwaben. Dort ein Auto zu Schrott gefahren. Schulden. Erstes eigenes Kind mit 21. Hartz IV. Drogen.

Maria-Christina Piwowarski Viele denken vielleicht: Bei mir ist alles so toll. Ich bin in der geilsten Stadt der Welt. Ich bin in einem der wunderbarsten Buchläden der Welt. Ich war verheiratet, hatte zwei Kinder, nach außen wirkte alles so Honig. Aber ich fand es wichtig, deutlich zu machen, welche Unwuchten da mitschwingen. Und dass ich auch manchmal nachts aufwache, mein Leben nicht fassen kann und an Dinge denke, die ganz furchtbar waren. Wir struggeln doch alle mit irgendwas.

Maria-Christina Piwowarski: „Wenn bei dir etwas nicht easy ist, bist du deswegen nicht komisch“

tipBerlin In einem anderen Insta-Post schrieben Sie dann im vergangenen Frühjahr von zwei Suizidversuchen vor vielen Jahren.

Maria-Christina Piwowarski Eigentlich waren es drei, aber ich dachte, ich übertreibe es nicht…

tipBerlin Wie lange haben Sie mit sich selbst gerungen, diesen Post abzusetzen?

Maria-Christina Piwowarski Dass ich diesen Text machen wollte, wusste ich schon ganz lange. Aber ich dachte dann immer, das ist zu privat. Warum willst du das erzählen? Es ging ja nicht darum, zu sagen: Bei mir ist auch nicht alles easy, bitte streichelt mich. Sondern: Wenn bei dir etwas nicht easy ist, bist du deswegen nicht komisch. Ich habe auch über meine Trennung geschrieben. Weil es mich beschäftigt. Das gehört doch alles auch zum Leben. Trennung, Fehlgeburt, gescheitert, krank, Beziehung kaputt, Job weg, Drogen, whatever! – das wird immer so schambehaftet verschwiegen. Und dann tut man, als wäre alles Honigkuchen. Das ist nicht das Leben!

tipBerlin Sie schrieben in diesem Post: „Alles, was in meinem Leben funktioniert, steht auf einem Fundament, das diese Brüche kennt und ausbalancieren muss.“

Maria-Christina Piwowarski Wenn du dich mit Literatur beschäftigst, das Innerste vom Menschsein suchst, das Wahre, dann kommst du irgendwann zu dem Punkt, wo du dich deiner eigenen Wahrheit stellen musst: Okay, dann gehört das eben auch dazu. Mir haben so viele Leute dankbar geantwortet, die waren so erleichtert! Das war der Moment, wo ich wusste: Ich habe alles richtig gemacht. Ich werde 40, und die richtige Maria muss jetzt mal raus.

tipBerlin Fühlen Sie sich vor den eigenen Dämonen jetzt, mit 40 Jahren, sicherer als mit 20?

Maria-Christina Piwowarski Mit 20 ist die Welt so groß, du hast so wenig gesehen, und du hast so wenig Beweise, dass du es schaffst. Mit 40 hast du diese Beweise. Und das ist sehr hilfreich.


Zur Person

  • Maria-Christina Piwowarski leitet seit 2015 das Ocelot. Auf Instagram folgen ihr 20.400 Menschen. Die zweifache Mutter (40) wuchs in einem kleinen Dorf in der Magdeburger Börde auf, zog 2007 nach Berlin und lebt jetzt in Wedding. Der Podcast „blauschwarzberlin“, in dem sie mit Ludwig Lohmann „letzte Lektüren“ bespricht, beginnt stets mit dem Öffnen einer Grauburgunder-Flasche. Sie liest 50 Seiten täglich. Mindestens.
  • ocelot, not just another bookstore! Brunnenstr. 181, Mitte, Mo–Sa 10–18 Uhr, online

Drei Büchertipps für den Herbst von Maria-Christina Piwowarski

  • Julia Friese: „MTTR“ (Wallstein)
  • Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter” (Kiepenheuer & Witsch)
  • Christine Koschmieder: „Dry“ (Kanon)

Mehr Literatur in und aus Berlin

Mehr Lieblingsbücher, diesmal aus der tip-Redaktion: Hier sind 12 neue Bücher für den Herbst. Aktuelle politische Illustrationen aus der Ukraine: Bilder gegen den Krieg. Liebe und Leiden: Eine Audienz bei Ruth Herzberg, der „Queen vom Prenzlauer Berg“. 30 Jahre Kultur in Prenzlauer Berg: Wir haben mit der Kulturbrauerei einen neuen Jubiläums-Prachtband über die Institution gestaltet. Mehr zu Berlin, Lesungen und Literatur findet ihr in dieser Rubrik.

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