Das Problem vieler allzu raffiniert geplotteter, am Reißbrett entstandener Romane ist, dass man als Leser die zugrunde liegende Übersichtsskizze eigentlich ebenso bräuchte. David Peaces Krimi Tokio im Jahr Null ist so ein Buch. Man kann die vielen jungen Frauenleichen, Tokioter Polizisten und Gangsterbosse, die Ortschaften und Stadtteile nicht immer leicht auseinanderhalten, und nicht jede Wendung der zerstückelten, noch dazu auf mehreren zeitlichen Ebenen angesiedelten Handlung erschließt sich völlig. Aber das ist in diesem Fall beinahe egal, denn man kann dieses Buch auch noch lesen – und von wie vielen Krimis kann man das schon behaupten? –, wenn man bereits die Handlung kennt.
„Tokio im Jahr Null“ ist kein probater Whodunit, bereits der erste Verdächtige ist der gesuchte Frauenschänder, es geht in den folgenden vielen hundert Seiten nur noch darum, herauszufinden, wieviele junge Mädchen er auf dem Gewissen hat. Und auch das ist nur ein Alibi für Peace, um seinen Anti-Helden Inspektor Minami durch das verbrannte, physisch wie moralisch heruntergekommene, vom Weltkrieg geschändete Tokio nach der totalen Kapitulation schicken zu können.
Der innere Monolog dieses kaputten, tablettensüchtigen, von den Erlebnissen im Krieg zutiefst traumatisierten, selbst schuldig gewordenen, ebenso korrupten wie unterwürfigen Bullen, der sich lieber bei seiner Geliebten vergnügt, als sich um Frau und Kinder zu kümmern, und dem seine Identität mehr und mehr zwischen den dreckigen Fingern zerrinnt, ist das Buch. Und dieses einerseits hyperwache, die chaotische Realität mit allen Sinnen erfassende, andererseits unter dem psychischen Druck langsam auseinanderfallende, zunehmend delirante Bewusstseinsprotokoll erweist sich als das adäquate Medium, um diese in allen Belangen kaputte Stadt „im Jahr Null“ abzubilden. Und die ist ja auch nur eine Großmetapher für die japanische Seelenlage.
Peace malt hier in abwechselnd nachtschwarzen und gleißend-grellen Farben ein Brueghelsches Höllenszenario, vor dem die bloße Existenz einer Polizei als absurder Witz erscheint. Und so ist es auch nur folgerichtig, dass „Tokio im Jahr Null“ als historischer Roman um so eindrücklicher gelingt, je mehr er als Krimi scheitert.
Vielleicht ist Mexiko wirklich so, wie eine Figur aus 2666 es beschreibt. Die Nation ist eine Collage aus den unwahrscheinlichsten Anspielungen, eine Anspielung auf Dinge, die es nicht gibt. Vor allem aber eine Albtraumlandschaft. Mexikos Einwohner sind verrückt nach dem Tod, für sie machen die Morde an Frauen das Pulsieren der Großstadt aus. Die Huren, die Bullen, Reporter und Politiker, sie lieben die Gewalt. Und erklären ausgerechnet Nachbarn, die aus Angst ihre Grundstücksmauern mit Glasscherben spicken, für verrückt.
In seinem mehr als tausendseitigen Mammutwerk, das nach seinem Tod 2003 erschien, verknüpft Roberto Bolaсo hauptsächlich zwei Erzählstränge: die Serienmorde an Frauen, seit den Neunzigern ungeklärt, angesiedelt in der fiktiven Stadt Santa Teresa, die auf den wahren unaufgeklärten Mordfällen in Ciudad Juбrez (laut Amnesty International 370 Tote bis 2005) beruhen, mit der fiktiven Lebensgeschichte Benno von Archimboldis. Der ist ein untergetauchter, genialer Autor und ehemaliger Wehrmachtsoldat, der nun in Mexiko vermutet wird. Was haben er und sein Sohn Klaus, der im Gefängnis von Santa Teresa sitzt, mit den Serienmorden zu tun?
Bolaсos größter Coup ist die Sprache, er erzählt seine Geschichte ebenso mitleidlos wie surreal, mehr um Vernebelung als um Aufklärung bemüht. Das Geheimnis Archimboldis, das wird schon früh klar, wird er nicht lüften.
Dafür reihen sich über hunderte von Seiten vergewaltigte und erwürgte Frauen eine an die andere. Die Geschichte wird zur Häufung von Augenblicken, die sich gegenseitig an Monstrosität überbieten. Und so wie die Romane Archimboldis wirkt bald auch Bolaсos eigener: eine formlose, geheimnisvolle sprachliche Masse, „im wörtlichen Sinne ein Prätext, eine falsche Tür“. Die Natur Mexikos ist bei Bolaсo dämonisch, die Städte wie geisterhafte Inseln, die Wüste wie unendliches Meer. Wer am Abend sein Haus verlässt, spürt sofort die Nacht wie ein Gespenst den eigenen Rücken berühren. Niemand ist irgendwo mehr sicher.
Wie kann es sein, dass über Jahre so viele Frauen ermordet werden, ohne dass die Polizei die Mörder finden kann? Bolaсo findet zynische Antworten. „In Mexiko Kriminologe zu sein“, lässt er einen Professor sagen, „das ist, als wäre man Kryptograf am Nordpol. Oder ein Marktschreier in einem Land von Taubstummen.“
Text: Sassan Niasseri, Frank Schäfer
David Peace „Tokio im Jahr Null“.
Aus dem Englischen von Peter Torberg, Liebeskind 2009, 415 Seiten, 22 Ђ
Lesung: Fr 6.11., 20 Uhr im English Theatre Berlin, Fidicinstraße 40, Kreuzberg, Eintritt: 6 Ђ, deutsche Textlesung: Werner Eng
tip-Bewertung: Lesenswert
Roberto Bolaсo „2666“.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen, Hanser Verlag 2009, 1096 Seiten, 29,90 Ђ
Lesung „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace und „2666“ von Roberto Bolaсo – die Übersetzer Ulrich Blumenbach und Christian Hansen lesen und diskutieren mit Ijoma Mangold und Tobias Rapp;
Lesung: Mo 23.11., 20 Uhr im Literarischen Colloqium Berlin, Am Sandwerder 5, Zehlendorf, Eintritt: 6/4 Ђ
tip-Bewertung: Lesenswert
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