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Literaturpolitik

Neuer PEN Berlin gründet sich: Out of Bratwurstbude

Neuer PEN Berlin: Vor knapp vier Wochen trat Deniz Yücel als Präsident der Schriftstellervereinigung PEN zurück. Am Freitag, 10. Juni, gründen mehr als 200 Schriftsteller:innen einen neuen Verband. Der PEN Berlin versteht sich als Gegenmodell zur „Bratwurstbude“ (Yücel): jünger, diverser. Das wird spannend. Aber interessiert das sonst noch jemanden? Ein Kommentar.

Neuer PEN Berlin mit Deniz Yücel, hier bei der lit.Cologne 2022. Foto: Imago/NurPhoto

Neuer PEN Berlin: Revolte nach der Gaudi von Gotha

So viel Radau um den deutschen PEN war lange nicht. Oder wie ein Großteil der Leute sagen würden: PEwas? Vor knapp vier Wochen flogen bei der Mitgliederversammlung der Schriftstellervereinigung PEN in Gotha die Fetzen, oder genauer: Es flogen Zornesaufwallungen mit gelegentlichem Schimpfwörter-Content („Arschloch“) und anderen gegenseitige Beschuldigungen wie Flummibälle kreuz und quer durch den angemessen nullglamourösen Tagungsort.

Die grottige Gaudi von Gotha endete damit, dass nicht nur der gerade knapp im Amt bestätigte „Welt“-Journalist Yücel mit den bereits jetzt legendären Worten „Ich möchte nicht Präsident dieser Bratwurstbude sein“ zurücktrat, sondern daraufhin das gesamte Präsidium – und ein Notpräsidium um den Ex-Präsidenten Josef Haslinger bis auf Weiteres die Führung übernahm.

Haslinger gehörte übrigens zu jenen fünf Ex-PEN-Präsident:innen, die Yücel für einen Auftritt bei der Buchmesse Lit.Cologne kritisiert hatten, weil Yücel dort laut über eine Flugverbotszone über der von Russland angegriffenen Ukraine nachgedacht hatte, womit er gegen die Charta des Internationalen PEN verstoßen habe – was man so sehen konnte, aber eben vor allem auch nicht. Zudem wurde Yücel ein überaus rustikales Auftreten in der Geschäftsstelle vorgeworfen, was dieser auch nicht auf sich sitzen ließ. So kam es jedenfalls zum nur vorerst gescheiterten Abwahlantrag gegen ihn – und sein gesamtes Präsidum.

Neuer PEN Berlin: Jünger, diverser, inklusiver

Nachdem der PEN aus Sicht seiner zahlreichen Kritiker:innen aus den eigenen Reihen überzeugend seine Nicht-Reformierbarkeit bewiesen hatte, soll sich am Freitag, 10. Juni, nun in Berlin ein neues, ein anderes, ein jüngeres, ein diverseres, ein inklusiveres PEN gründen: unter dem Titel PEN Berlin. In der Selbstdarstellung „Über uns“ heißt es: „Im Geiste unserer Namensgeberin Berlin, der Vielsprachigen, der Stadt, die heute für Offenheit und für die Überwindung von Grenzen steht, nennen wir uns PEN Berlin – eine NGO, die sich den Idealen der Aufklärung, der Meinungsvielfalt, der Toleranz und der Solidarität verpflichtet.“

Was natürlich umgehend die Frage aufwirft, ob sich das „alte“ PEN fortan PEN Restdeutschland rufen lassen muss. Und damit zur Resterampe für immer noch rund 600 Schriftsteller:innen im fortgeschritteneren Dienstalter und Sachbuchautor:innen im Selbstverlag wird. Mit weiterem Sitz in Darmstadt.

Denn diese Neugründung hat es wirklich in sich. Unter den 233 Gründungsmitgliedern finden sich zahlreiche namenhafte Literat:innen – neben der bisherigen PEN-Ehrenpräsidentin Ursula Krechel zum Beispiel Imran Ayata (u.a. „Ruhm und Ruin“), Zoë Beck, Hans-Christoph Buch, Julia Franck (jüngster Roman: „Welten auseinander“), Wladimir Kaminer, Daniel Kehlmann, Miku Sophie Kühmel, Inger-Maria Mahlke, Mithu M. Sanyal, David Wagner und Feridun Zaimoglu wie auch Verleger wie Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag und Gunnar Cynybulk vom Kanon Verlag. Out of Bratwurstbude: Sieht erst mal ganz gut aus.

Neuer PEN Berlin: Es wird nicht langweiliger

Darüber hinaus sind aber auch einige auf dieser Liste, die sich auf jedem Fall dem künstlerischen Bereich zuordnen lassen, ihren beruflichen Schwerpunkt trotz gelegentlich auch veröffentlichter Druckwerke nicht überwiegend im literarischen Segment haben: wie Frank Spilker und Dirk von Lowtzow, bekannt von den dereinst zur „Hamburger Schule“ gezählten Bands Die Sterne und Tocotronic.

Und dann stehen unter den Gründungsmitglieder:innen noch einige überaus meinungsstarke Publizist:innen in trauter Gemeinsamkeit untereinander, die für derart konträre Positionen bekannt sind, was beispielsweise die Corona-Politik, den Feminismus oder das Gendern betrifft, so dass man sich bei der ersten Mitgliederversammlung schon instinktiv vor potenziell zweckentfremdeten Weinglasinhalten (weiß oder rot, egal) ducken möchte.

Als Beispiel seien dabei die Philosophin Svenja Flaßpöhler und der „Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer auf der einen Seite und die „Spiegel“-Kolumnistin Margarete Stokowski und der Buchhändler und Aktivist Linus Giese auf der anderen genannt. Die waren bislang ja nicht so oft einer Meinung oder, etwas unfreundlicher, sind sich spinnefeind. Was zumindest schon mal keine schlechte Voraussetzung dafür ist, dass es beim PEN in den Debatten künftig auch nicht langweiliger wird. Und vor allem auch wieder, in der Gesamtheit: relevanter.

Und dann twittert auch noch Ulf Poschardt

Das Echo auf die geplante Neugründung, die auf der der nächsten Versammlung des Internationalen PEN, die vom 27. September bis 1. Oktober in Uppsala erst noch abgesegnet werden muss, ist beileibe nicht nur positiv. Ganz abgesehen von der Spaßfraktion in den sozialen Netzwerken, die umgehend die Gründung weiterere PEN-Orts-Chapter anregte, beispielsweise dem „PEN-Zentrum Berlin-Wilmersdorf“ (Elias Hauck).

Ernster ist es dem Lyriker Max Czollek. Der fragte angesichts einiger Erst-Mitglieder auf Twitter entgeistert: „Sorry, soll das ein Witz sein?“, was sich vermutlich unter anderem auf den unter eher links gestimmten Menschen herzlich unbeliebten Fleischhauer bezieht. Die Comedy-Autorin Jasmina Kuhnke, die auf Twitter unter dem Namen Quattromilf unterwegs ist, warf Yücel bei der Gelegenheit nicht zum ersten Mal „Antischwarzen Rassimus“ vor (er hatte vor Jahren, damals noch „taz“-Kolumnist, zum Beispiel das N-Wort benutzt – hier könnte jetzt eine sehr lange Debattenbeschreibung stehen) und verdammte darob die Neugründung in Bausch und Bogen.

Und wenn man dann so bei sich leise denkt, seltsamer wird‘s dann auch nicht mehr, kommt wahrscheinlch ein Tweet von Ulf Poschardt um die Ecke. Der Chefredakteur des Springer-Unternehmens WeltN24 twitterte, begeistert von der PEN-Berlin-Mitgliedschaft von Thea Dorn und Jan Fleischhauer: „der witz ist, dass dieser NEUE pen die alte linke ablöst und wieder zurückkehrt mit stimmen aus allen lagern (…). eine tolle initiative, die den alten (linken) PEN erledigen kann.“ Er meint übrigens den alten (linken) PEN, der mehrheitlich gegen das Gendern votiert hatte. Das nur mal so.

Aber vielleicht wird die größte Aufgabe des PEN Berlin eine ganz andere: die vielen Menschen, die – möglichweise zu ihrem Glück und Wohlergehen – gar nicht Teil dieser Literatur-/Publizistik-/Medien-Bubble sind, überhaupt erst wieder für die Schriftstellervereinigung zu interessieren. Es ist schon bemerkenswert, wie überschaubar die Resonanz auf die Gründung bisher außerhalb der üblichen Feuiletonverdächtigen-Blase geblieben ist. Selbst Jasmina Kuhnkes zuverlässig aufmerksamkeitsoptimierte Tweets gegen den neuen PEN Berlin verpufften, im Vergleich zu ihren sonstigen Post-Reichweiten, ziemlich mindergoutiert.

Out of Bratwurtbude, das kann nur ein Anfang sein. Was mit dem von hier aus beginnt, ist noch sehr offen. Aber damit auf jeden Fall auch: eine große Chance.


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