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Neuer Roman von Julia Franck: Ganz bei sich im Schmerz

Zehn Jahre nach ihrem bislang letzten ­Roman wagt sich Julia Franck, die 2007 den Deutschen Buchpreis gewann, an den für sie ­schwersten Teil ihrer grellen, unwahr­scheinlichen, deutsch-jüdischen wie ost-westdeutschen Familiengeschichte: sich selbst. In ihrem beeindruckenden ersten Roman seit zehn Jahren, „Welten auseinander“, ist Julia Franck ganz bei sich im Schmerz. Wir haben die Berliner Schriftstellerin in Schöneberg getroffen.

Schriftstellerin Julia Franck: „Ich musste erst älter werden.“ Foto: Mathias Bothor

Neuer Roman von Julia Franck: Unwahrscheinliche und grelle Familiengeschichte

Julia Franck sagt, sie halte sich für einen humorvollen Menschen. Nur findet der Humor nicht so recht in ihre Romane hinein. „Das wundert mich selbst“, grübelt sie. Außer vielleicht beim Debüt „Der neue Koch“ von 1997. „Der hat auch einige groteske Szenen.“

In ihren Büchern, oft von ihrer irren, wirren deutsch-jüdischen wie ost-westdeutschen Familie inspiriert, voller Geschichten, „so unwahrscheinlich und grell“, wie es in ihrem neuen Werk „Welten auseinander“ heißt,

  • wird viel gelitten, krass gelebt, oft gestorben
  • wird ein siebenjähriger Junge von der Mutter im Kriegsende-Chaos auf einem Bahnhof verlassen („Die Mittagsfrau“, 2007 mit dem Deutschen Buchpreis geehrt und einer unserer 100 Berliner Romane, die man gelesen haben sollte). Mittlerweile wurde das Buch auch verfilmt: Mit der Regisseurin Barbara Albert sprachen wir über „Die Mittagsfrau“.
  • sind zwei Geschwister in der frühen DDR unfassbaren Grausamkeiten ausgesetzt, an Körper und Seele. Kinder einer hoch verehrten Bildhauerin, glühenden Kommunistin und eisesfrostigen Mutter („Rücken an Rücken“, 2011, wurde nominiert für den „Independent Foreign Fiction Price“)
  • und kann im neuen, starken, aufwühlenden Roman ein Mädchen, gerade mal 13 Jahre alt – seine Mutter war mit ihren vier Töchtern aus Ost-Berlin 1978 in den Westen ausgereist, es hat sie nach Schleswig-Holstein verschlagen, in ein Bauernhaus, die einzige Sozialhilfefamilie im Ort – sich selbst nur retten vor dieser dysfunktionalen Familie, indem es weggeht, allein, auch ohne die Zwillingsschwester. Und nach West-Berlin zieht, Anfang der 80er Jahre.

Julia Franck kommt mit 13 nach West-Berlin – allein

In West-Berlin kommt das Mädchen bei Freunden unter, lernt seinen Vater kennen, einen Regisseur, den die Mutter, eine Schauspielerin, nicht in ihr Leben ließ. Es verliert ihn zwei Jahre später an den Krebs. Und verliebt sich in Stephan, einen West-Berliner Bürgersohn, der Schriftsteller werden will, aber noch so rein nichts erlebt hat. Anders als sie, die „aus dem Chaos“ kommt, „Ost, Nord, West, als Nomadin, Flüchtige und fast Waise”. Bis zu ihrem 23. Lebensjahr reicht der neue Roman.

Dieses Mädchen heißt Julia. Julia ist Julia Franck, jetzt 51. Sie musste erst doppelt so alt werden, um sich an den für sie schwersten Stoff ihrer Familiengeschichte zu wagen. In „Welten auseinander“ ist sie ganz bei sich.

Der Roman beginnt „an jenem Dienstag“, nicht irgendeinem, sondern „jenem“. Unheilschwanger dräut „jener Dienstag“ im Buch. Mehr sei hier nicht verraten. Spoiler-Gefahr.

Ein Café in Schöneberg. Julia Franck ist mit dem Rad gekommen, sie wohnt mit ihrer Tochter, 18, in der Nähe. Ihr Sohn, 20, ist ausgezogen. Sie spricht langsam, nimmt sich Denkzeit. Einmal ist fast 30 Sekunden Stille.

Julia Franck: „Wenn ich diese Dinge aufschreibe, dann glaubt das niemand“

Geboren 1970 in Ost-Berlin, fand Julia Franck autobiografisches Schreiben einst „abwegig“. So sagt es die Julia im Roman zu ihrer Freundin Steffi, so erzählt es auch die Julia Franck im Café. Steffi machte sie, 15 oder 20 Jahre sei das her, auf Frank McCourts Roman „Die Asche meiner Mutter“ aufmerksam. Und auf weitere autofiktionale Literatur: Coetzee, Kertész. Marguerite Duras, Annie Ernaux.

Julia Franck war da noch skeptisch: „Ich dachte: Wenn ich die Dinge aufschreibe, die mir in meinem familiären Umfeld geschehen sind, dann glaubt es niemand. Keines dieser biografischen Details ist für sich genommen unwahrscheinlich. Aber die Ballung ist schon eher ungewöhnlich.“

2011 war „Rücken an Rücken“ ihr erstes Buch, in dem ihre Familiengeschichte nicht bloß Inspiration, sondern tatsächlich Inhalt war, wenn auch ohne Klarnamen: ihre jüdische Großmutter, die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger, deren Kinder so sehr litten. Julia Francks Onkel, der sich 1961 das Leben nahm. Ihre spätere Mutter, das magersüchtige Mädchen, das zweimal vergewaltigt wurde.

Als „Rücken an Rücken“ vor zehn Jahren erschien, befanden manche Kritiker:innen den Roman für allzu grausam, ausgedacht, effektüberladen. Das hat Julia Franck getroffen. Erfunden war da wenig: „Ich habe eher verdichtet, ausgelassen, untertrieben.“

Zehn Jahre kein neuer Roman: „Ich musste erst älter werden“

Vielleicht, mutmaßt sie, hätte sie jenes Buch noch zehn Jahre liegen lassen sollen. Auch, weil einer Schriftstellerin um die 50 diese erzählerischen Mittel eher zugestanden würden. So gesehen ist jetzt die richtige Zeit für „Welten auseinander“.

„Ich musste erst älter werden”, sagt sie. „Für dieses Buch besonders.” Schließlich wirke es „feige, lächerlich und auch hinderlich, wenn man um eine solche Geschichte ständig herumschreibt“. Aber sie sagt auch: „Ich hatte immer große Angst vor der literarischen Auseinandersetzung mit dem Schmerz, der in solchen Erfahrungen liegt, der auch nicht einfach wegzuschreiben ist.“

Ihr allererster autofiktionaler Versuch, die Kurzgeschichte „Streuselschnecke“ im Band „Bauchlandung“ (2000), war niemandem unter den sonstigen fiktiven Geschichten im Buch aufgefallen. Bereits damals schrieb sie, wie auch jetzt wieder, über das Sterben ihres Vaters. Wie überhaupt der neue Roman gern auf frühere Werke verweist; gleichsam literarische Hyperlinks. Wenn etwa die Familie nach der Ausreise fast neun Monate im Notaufnahmelager Marienfelde zubringt, schimmert ihr Roman „Lagerfeuer“ (2007) durch.

Viele Bekannte im Roman: Helene Weigel, Wolf Biermann, Nina Hagen

„Welten auseinander“ greift von den frühen 90er-Jahren bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück, zur Urgroßmutter Lotte, die in einer jüdischen Familie in Berlin aufwächst, sich zum Entsetzen des Vaters in einen Goi namens Heinrich Franck verliebt. Lottes jüngere Schwester wird von den Nazis vom Gleis 17, Berlin-Grunewald, deportiert und ermordet. Lotte und Heinrich unterhalten im Nachkriegs-Pankow ein Netzwerk aus Wissenschaftlern, Literaten, Künstlern.

Überhaupt rauschen viele bekannte Namen durchs Buch: Arnold Zweig, Helene Weigel, Victor Klemperer, Robert Havemann, Wolf Biermann, Stephan Hermlin. Manchmal passt Nina Hagen auf die kleine Julia auf.

Immer wieder schiebt Julia Franck Zeiten ineinander (ähnlich wie es Jenny Erpenbeck in ihren Romanen tut), öffnet sie konzentriert Kanäle ins Gestern und Vorgestern, schaut mehrfach, neu ausgeleuchtet, auf dieselbe Straße, in dieselbe Wohnung, auf das selbe Leben, den selben Tod. Dabei geht es um Dinge, über man keine Macht hat. Identität, Scham, Erinnerung. „Wir können nicht wählen, woran wir uns erinnern und was wir vergessen”, steht an einer Stelle.

Julia Franck: „Wer darf welche Identität für sich reklamieren?“

Es ist auch ein Roman über das Schreiben: als Rettung von der Unwucht der Welt. Wo Orte, Beziehungen, Heimaten, Identitäten derart volatil sind, wird ihr das Tagebuch zum einzigen Halt. Es dauerte ja lange, bis sich Julia Franck als Berlinerin fühlte: „Wer darf welche Identität für sich reklamieren? Da sage ich am liebsten: Ich bin nicht Ossi, ich bin nicht Wessi, ich bin nicht Jüdin, ich bin nicht Nicht-Jüdin. Ich bin das alles nicht. Oder ich bin das alles.“

Ihr Gefühl ist so, dieser Roman könne ihr letztes autofiktionales Buch sein. „Vielleicht“, sagt Julia Franck, „beginnt ja jetzt meine humoreske Altersphase.“ Und sie findet diesen Gedanken: urkomisch.

  • Julia Franck „Welten auseinander“, S. Fischer, 23 € 

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