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Hausbesetzer*innen

Roman „Aufprall“: So ging es im rauen West-Berlin der 80er zu

Die Künstlerin Bettina Munk, die Schriftstellerin Karin Wieland und der Soziologe Heinz Bude haben mit uns über das raue West-Berlin der 80er Jahre, ihre Hausbesetzer*innen-Vergangenheit und ihren Roman „Aufprall“ gesprochen.

Bar im besetzten Haus in der Marchstraße in Berlin-Charlottenburg. Foto: Imago Images/Ulli Winkler
Bar im besetzten Haus in der Marchstraße in Berlin-Charlottenburg. Foto: Imago Images/Ulli Winkler

tipBerlin Als Kollektiv haben Sie einen Roman über ein West-Berliner Hausbesetzer-Kollektiv der 80er Jahre geschrieben, das auf eigenen Erfahrungen basiert. Ist das der alte Kollektiv-Geist von 1981?

Karin Wieland Geteilte Autorenschaft ist etwas ganz Schwieriges. Eine Wohnung zu teilen ist einfacher als die Autorenschaft.

Heinz Bude Wir wollten das Kollaborative von heute mit dem Kollektiven von damals in Zusammenhang bringen.

tipBerlin Sie zogen alle drei Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre aus Westdeutschland her. Was war West-Berlin damals, kurz nach dem Deutschen Herbst, für eine Stadt?

Bettina Munk  Wir haben mit großer Überraschung unsere Finger in die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg gesteckt. Die Brandmauern! Das Leben mit Kohleöfen und Klo auf halber Treppe! Wir kannten sowas aus Westdeutschland nicht.

Hausbesetzer gab es in ganz Europa

Karin Wieland Dieses raue West-Berlin mit einem Ring aus Beton: Genau dort wollten wir hin. Diese aufgegebene Stadt mit ihren Höhlen und Löchern hat uns zu einem großen Experiment eingeladen, auf das wir uns naiv und mutig einließen.

Bettina Munk Es gab schon eine riesige Besetzer-Bewegung in ganz Europa: die Squatter in London, die Kraaker in Amsterdam. Sogar in der ordentlichen Schweiz! Und in Freiburg.

Heinz Bude Ich würde sogar sagen, es war eine post-depressive Bewegung. Der Deutsche Herbst war Depression pur! Da musste jetzt etwas Neues passieren.

tipBerlin Die Künstlerin Luise, eine der drei Erzählstimmen Ihres Buchs – neben dem Philosophie-Studenten Thomas und einem Chor der Besetzer*innen – sagte einmal: „Wir überließen uns einem fast schon metaphysischen Freiheitsgefühl und verjubelten unsere Jugend.“ Toller Satz übrigens.

Karin Wieland Den Satz wollte uns der Lektor streichen!

tipBerlin Warum kommt dieses Buch gerade jetzt?

Karin Wieland Da steckt keine Marktstrategie dahinter. Es begann 1995 mit einem Brief, den Bettina an mich aus New York nach Kreuzberg geschrieben hat. Dem Brief lag ein Manuskript bei. Darin hat sie ihre Nahtoderfahrung eines Unfalls in der Nähe von Terezín im Jahr 1982 – und da kannten wir uns schon – aufgeschrieben.

Der Roman „Aufprall“ ist kein Erinnerungsbuch

tipBerlin Im Buch ist das der „Aufprall“, bei dem eine Besetzerin, Soraya, stirbt. Luise überlebt schwer-, Thomas quasi unverletzt.

Karin Wieland Vor vier Jahren war ich in Getty Center in Los Angeles bei einer Tagung über Urban Rebellion. Da hielt eine Professorin einen Vortrag auch über Besetzer*innen in 36. Und ich sagte zu Bettina: „Wenn wir daraus noch etwas machen wollen, dann jetzt!“ Es war von Anfang an klar, dass wir das Buch als Fiktion machen wollten. Kein Sachbuch, kein Memoir. Keine Sentimentalitäten!

Heinz Bude Und kein Erinnerungsbuch!

tipBerlin Herr Bude, Thomas kommt, wie Sie selbst aus Wuppertal. Da liegt es doch nahe, dass er und Sie sich, nun ja: kennen.

Heinz Bude Genau, ich kenne den Thomas, aber ich bin nicht er. Das war auch für mich beim Schreiben eine wahnsinnige Erfahrung, dass die Fiktion mir das Hinabsteigen in andere Gefühlswelten erlaubt, die sich mir auch nicht in einem Erinnerungsdiskurs öffnen, weil der mir viel zu narzisstisch ist. Die Fiktion erlaubt es, nicht-narzisstisch zu schreiben.

Der Roman "Aufprall" lässt die Hausbesetzer-Szene der 80er Jahre in West-Berlin wiederaufleben. Foto: Imago Images/Detlev Konnerth
Der Roman „Aufprall“ lässt die Hausbesetzer-Szene der 80er Jahre in West-Berlin wiederaufleben. Foto: Imago Images/Detlev Konnerth

tipBerlin Die Frauen sind im Buch die stärkeren Persönlichkeiten. Wurde dieser Aspekt bei der West-Berliner Hausbesetzer-Geschichte der 80er Jahre bislang zu wenig beachtet?

Bettina Munk Ja, leider. Deswegen haben wir gesagt: Jetzt muss das mal passieren.

Karin Wieland Wobei es unsere Figuren nicht eins-zu-eins gab. Wenn Sie eine Figur konstruieren, dann haben Sie Zugriff auf ihr Bewusstsein. Dann können Sie diese Figur steuern. Aber die entwickelt sich trotzdem selbst weiter.

Heinz Bude Außerdem haben wir nicht diesen komischen Jugendstolz anderer Generationen. Wir sind eher lakonisch, zurückhaltend. Aber auch existenziell.

tipBerlin Warum haben Sie keinen Jugendstolz?

Heinz Bude Weil ich Leute nicht mag, die ihr ganzes Leben lang ihre Jugend vor sich hertragen. 

West-Berlin war eine Frontstadt

tipBerlin Es rauschen viele Leute durchs Buch, die Sie mit treffsicheren Pinselstrichen einführen. Wie der dürre Lenny mit „schlanken Fesseln, langen Haaren und den toten Augen des Zonenrandgebiets“. Oder Marianne „mit androgynen Hüften … und von großem Leichtsinn“. Geben Sie es zu, Sie hatten viel Spaß bei diesen One-Linern!

Bettina Munk Hatten wir!

tipBerlin Es ist wie bei einem Bild, wo man genau überlegt: Wo setzt man den Strich, wo braucht man ihn nicht.

Karin Wieland Das ist ein Roman, der wie ein Stück auf der Theaterbühne funktioniert. Der Chor steht für die antiindividualistische Sichtweise, spricht für das Wir, die Gruppe.

Heinz Bude Und es ist der Strich der Stadt. Dies sind keine ländlichen Figuren. Diese Striche sind von Leuten, die alle in dieses merkwürdige Berlin geworfen worden sind.

tipBerlin West-Berlin war damals Front-Stadt – in jeder Hinsicht. Die Konflikte lagen offen.

Bettina Munk Das dritte Haus liegt an der Mauer. Die Besetzer laufen immer auf die Mauer zu. Das ist ein Gefühl, das klärt und hart macht.

Heinz Bude Es war ein zum Abriss bestimmter Stadtteil. Wir kannten ja die Pläne von der Autobahn, die da durchgehen sollte. Die Arbeiter sind ins Märkische Viertel vertrieben worden. Was blieb übrig? Die Türken und wir.

1983: Eine besetzte Wohnung im Haus in Kreuzberg. Foto: Imago Images/teutopress
1983: Eine besetzte Wohnung im Haus in Kreuzberg. Foto: Imago Images/teutopress

tipBerlin Als was fühlten Sie sich selbst damals eigentlich? Als Avantgarde?

Bettina Munk Man fühlte sich selbst wie eine Figur in einem großen Theaterstück. Wie jemand, der sofort etwas schaffen könnte.

Karin Wieland Und es würde gelingen. Wenn David Bowie im Anderen Ufer saß, hat man natürlich geguckt. Aber nicht gedacht: Wie komme ich an den ran? Bowie hatte es schon weiter gebracht, aber man glaubte daran, man würde auch seinen Punkt machen. Es gab ein großes Vertrauen in die Zukunft.

tipBerlin Aber Ihre Parole hieß doch „No future“.

Karin Wieland „No future“ hieß ja: Die Vergangenheit ignorieren wir, und die Gegenwart nehmen wir uns jetzt. „No future“ war positiv! Die Besetzerinnen in „Aufprall“ wollen, dass Kunst, Leben und Intellekt zusammengehen.

Das Kukuck, Kunst- und Kulturzentrum Kreuzberg war ein besetztes Haus, in dem zahlreiche Veranstaltungen statt fanden. Foto: Imago Images/Peter Homann
Das Kukuck, Kunst- und Kulturzentrum Kreuzberg war ein besetztes Haus, in dem zahlreiche Veranstaltungen statt fanden. Foto: Imago Images/Peter Homann

tipBerlin Und man grenzte sich von den 68ern ab, „diesen entsetzlichen Besserwissern“.

Karin Wieland Das waren die Arrivierten! Was sollten wir uns mit denen verbünden?

Bettina Munk Die haben sich immer Fragen gestellt und sie auch gleich beantwortet.

Heinz Bude Die haben diesen blöden Jugendstolz!

tipBerlin Die einen Besetzer*innen der Stadt wollten um Legalisierung der Häuser verhandeln, für die anderen war alles, was nicht Kampf war, „gequirlte Müslischeiße“.

Bettina Munk Wir waren jetzt nicht für die gequirlte Müslischeiße, ganz bestimmt nicht. Wir waren aber auch nicht die knallharten Autonomen. Wenn ich mal für Luise sprechen kann und ihre Freundin Soraya, wollten die beiden ein künstlerisches Leben führen.

Karin Wieland In „Aufprall“ wird auch gezeigt, was es für Konflikte gab. Einige wollten sich retten, eine schöne Wohnung haben. Aber Luise, Irene, John, Lynn et cetera geht es um das offene Experiment.

„Wenn West-Berlin abgehakt war, blieb nur New York“

tipBerlin Luise geht später nach New York. Wie Sie, Frau Munk. Was findet sie dort, was Berlin damals nicht bot?

Bettina Munk Eine Energie, die es in Berlin in dieser Zeit nicht gab. Heute vielleicht. Damals aber nicht. Das war eine sehr ratlose Zeit kurz vor der Wende.

Karin Wieland Wir waren auf der Suche nach der großen Stadt. Die gab es damals in Deutschland nicht. Was wir hatten, war nur dieses halbe Berlin. Und wenn West-Berlin abgehakt war, blieb nur New York übrig. Oder eine Landkommune im Wendland.

tipBerlin Wie blicken Sie heute auf Ihre verjubelte Jugend in West-Berlin zurück?

Heinz Bude Als ein experimentalistisches Paradies.

Bettina Munk Nostalgisch sind wir gar nicht. Ich habe keine Sehnsucht nach der Zeit mit der Mauer.

Karin Wieland Dieses alte West-Berlin hat viel zur Veränderung der Republik beigetragen. Die Kohl-Zeit war eben auch eine Zeit der Dissidenz. Thomas, Luise und all die anderen wissen, dass Scheitern ein Erfolg sein kann.

Heinz Bude Und das ist eine Form der Leidenschaft, die bei der praktisch-quadratischen Bundesrepublik immer gern vergessen wird.

  • Aufprall, Bude, Munk, Wieland, Carl Hanser Verlag, 384 S., 24 €

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