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„Schatten der Gesellschaft“ erzählt eindrücklich von Obdachlosigkeit in Berlin

Der Berliner Zeichner Sebastian Lörscher hat in seinem Buch „Schatten der Gesellschaft“ Berliner Obdachlose in Texten und Zeichnungen porträtiert. Obdachlosigkeit ist in Berlin ein soziales Problem und eine politische Angelegenheit, doch die Geschichten hinter den Menschen, vor allem von den Betroffenen selbst erzählt, kennt man meistens nicht. Mit seinem Projekt will Lörscher Klischees überwinden und Menschen ein Forum geben, die sonst kaum Gehör bekommen.

Obdachlosigkeit in Berlin hat viele Gesichter. Die Gruppe stammt aus dem Kapitel „Samira“. Zeichnung: Sebastian Lörscher
Obdachlosigkeit in Berlin hat viele Gesichter. Die Gruppe stammt aus dem Kapitel „Samira“. Zeichnung: Sebastian Lörscher

Obdachlosigkeit ist in Berlin allgegenwärtig

In Berlin trifft man oft auf Obdachlose: Sie schlafen unter Brücken und am Straßenrand, suchen Schutz in einer U-Bahn-Station und betteln um Geld oder etwas zu essen. Das Thema Obdachlosigkeit ist in Berlin sehr präsent. Weniger ist es das oft in den Köpfen vieler Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit oder zu einem Termin an ihnen vorbeilaufen. Der Berliner Zeichner und Autor Sebastian Lörscher möchte das ändern.

In seinem Buch „Schatten der Gesellschaft“ stellt er in Texten und Zeichnungen einige der Menschen vor, die kein eigenes Dach über dem Kopf haben und auf der Straße leben. Er erzählt ihre individuellen Geschichten und zeigt, wie vielfältig die Gründe sind, die hinter der Wohnungslosigkeit stehen. Er selbst habe vorher nie wirklich mit Obdachlosen gesprochen, sagt Lörscher im Gespräch mit tipBerlin. „Ich habe gemerkt, dass ich viele Klischees und Stereotype im Kopf habe.“ Ziel seines Projekts sei es, „Leuten Gehör zu verschaffen, die in der Gesellschaft nicht so oft gehört werden“.

Ausgestattet mit Notizheft und Zeichenblock begab er sich somit an die Orte, an denen Obdachlose anzutreffen sind. Wie zum Beispiel den Bahnhof Lichtenberg, der als einer von zwei Kältebahnhöfen im Winter 2018/2019 für Wohnungslose rund um die Uhr geöffnet hatte. In seinem Buch thematisiert der Künstler auch seine Unsicherheit, die Scheu davor, dort auf die Menschen zuzugehen. „Plötzlich frage ich mich, ob mein Vorhaben, hier zu zeichnen, nicht auch voyeuristisch ist“, schreibt er. Schließlich sind sie es, die ihn ansprechen. Immer wieder kehrt er danach dorthin zurück, spricht mit den Menschen und zeichnet sie. „Es war sehr offen und herzlich, obwohl es ein raues Umfeld ist“, erzählt Lörscher. Diese Erfahrung machte auch Debora Ruppert beim Fotografieren der Menschen auf den Berliner Straßen.

Bewusstsein für eigene Privilegien

Seine Befürchtung, voyeuristisch zu sein, ist berechtigt. Aber auf das Wie kommt es an. Durch sein künstlerisches Herangehen kommt er den Menschen besonders nah. In charakteristischen Porträts, mal mit groben, kräftigen Strichen, mal fein und detailliert gezeichnet, zeigt er sie liebevoll mit ihren Eigenheiten. Dazu kommen die eindrucksvollen Szenerien im Bahnhof oder Wärmezelt. Seine skizzenhaften, partiell kolorierten Bilder sind atmosphärisch dicht und zeigen den Andrang in den langestreckten, endlos wirkenden Gängen der Bahnhöfe. Lörscher agiert umsichtig und respektvoll, reflektiert sich dabei immer wieder selbst. Auch das Bewusstsein für seine eigenen Privilegien verliert er nicht aus dem Blick.   

Der vielgereiste Künstler entdeckte bereits in anderen Projekten wie „Making Friends in Bangalore“ oder „Das Nirgendwo ist auf unserer Seite“ die gezeichnete Reportage als Mittel, um den Menschen in unterschiedlichen Ländern und Milieus nahezukommen. Wenn sich Lörscher mit seinem Skizzenblock niederlässt, kommen die Menschen oft neugierig auf ihn zu. Durch den Prozess des öffentlichen Zeichnens präsentiere er ein Stück weit sich selbst, sagt der Berliner. Dadurch würden die Menschen sich auch ihm gegenüber leichter öffnen. „Zeichnungen helfen, einen Zugang zu den Menschen zu schaffen.“    

Das Paar aus dem Kapitel „Kerstin“. Zeichnung: Sebastian Lörscher
Das Paar aus dem Kapitel „Kerstin“. Zeichnung: Sebastian Lörscher

In seinem aktuellen Buch widmet er seinen Gesprächspartner:innen jeweils einen einzelnen Abschnitt. Die Geschichten berühren. Sie lassen die individuellen Schicksale der Betroffenen, die oft als vermeintlich homogene Gruppe wahrgenommen werden, nah und greifbar werden. Wie die von Fritz, der als Eisenflechter im Stahlwerk gearbeitet hat, bis seine Wirbelsäule so kaputt war, dass er seine Arbeit verloren hat und auf der Straße gelandet ist. Und seitdem in einem Teufelskreis gefangen ist: „Hast du keine Wohnung, kriegst du keine Arbeit. Hast du keine Arbeit, kriegst du keine Wohnung.“ Wer sich engagieren möchte oder auch nur in wichtigen Momenten Hilfe leisten, kann hier nachschauen, welche Anlaufstellen und Notrufnummern es für Obdachlose gibt.

Es sind Menschen, bei denen plötzlich alles zusammenkommt

Es sind Menschen, bei denen plötzlich alles zusammenkommt. Die erfolgreiche Unternehmer sind und eine Familie haben – und dann fast alles auf einmal verlieren. Wie im Fall von Gabriel, ehemaliger Inhaber eines Start-Ups für Kryptowährung. Irgendwann hatte er mit gravierenden finanziellen Problemen zu kämpfen, zur gleichen Zeit ging seine Beziehung in die Brüche und er landete schließlich auf der Straße. Oder es sind Menschen, die trotz eines festen Jobs keine Wohnung finden oder die als Geflüchtete ohne festen Aufenthaltsstatus nirgendwo richtig ankommen.      

Bei einigen ist das Leben auf der Straße durch die Sucht geprägt. Kerstin machte bereits einen Alkohol-Entzug, lebte in einem betreuten Wohnheim und kümmerte sich nebenbei in einer Klinik um Menschen mit Demenz. Als der Stress bei der Arbeit immer größer wurde, kaufte sie sich einmal eine kleine Flasche Rotwein. Und die Negativspirale setzte sich in Gang: Kerstin wurde rückfällig und flog aus dem Wohnheim. „Ich will einfach mal wieder dort sein, wo es sich normal anfühlt. Einfach mal wieder am Leben teilnehmen“, sagt sie.  

Die persönlichen Schilderungen lassen während der Lektüre die erschreckende Erkenntnis reifen, dass es jeden treffen kann. Denn Gründe für die Obdachlosigkeit gibt es viele. Nicht nur die Sucht, auch psychische Erkrankungen, der Verlust des Partners oder der Wohnung werden genannt, wie Lörscher auch in Gesprächen mit zwei Streetworker:innen vor Ort erfährt. Diese bringen ihre eigene Perspektive auf das Thema mit ein. In jedem Fall sind sie nah dran an den Betroffenen. Streetworker André formuliert es so: „Wir sollten Obdachlose als das ansehen, was sie sind: als ganz normale Menschen. Als Menschen, denen aus irgendwelchen Gründen das Leben entglitten ist. Die alle mal kleine Knirpse waren und ihren ersten Schultag hatten, die Väter, Mütter oder Ehegatten sind.“

Text: Birte Förster


Schatten der Gesellschaft – Die Obdachlosen von Berlin von Sebastian Lörscher, Jaja Verlag, 128 Seiten, 15 €


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