Literatur

Sextauschbörse für Hipster

M lebt in Berlin Neukölln, hält sich mit Musik über Wasser und schläft sich durch die Machtstrukturen der Kunstwelt. In ihrem gleich­namigen ­Roman verbinden Marlene Stark und Anna Gien schonungslos Kunst­kritik und Feminismus

Abrechnung mit dem Kunst­betrieb: Marlene Stark (li.) und
Anna Gien, Foto: Julien Menand

„Der ganze erotisierte Zoo schreit nach Totalzerfickung aller stabilen Lebensmodelle.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, was Anna Gien und Marlene Stark jahrelang in der Kunstwelt erlebten. Er findet sich auf den ersten Seiten ihres gemeinsam geschriebenen Romans „M“, der vor wenigen Wochen erschienen ist. Darin erzählt die titelgebende Ich-Erzählerin M, wie sie als Neuköllner DJane und Künstlerin die ausbeuterischen Strukturen des Kunstbetriebs erst zu spüren bekommt, sich dann dagegen wendet und schließlich das Sexleben ihres ­Bekanntenkreises zum Kunstprojekt macht.

„M“ ist eine Abrechnung der Autorinnen mit dem Kunstbetrieb, allerdings weniger persönlich als vielmehr konzeptuell. Beide haben in den letzten Jahren zur Genüge kuratiert, ­assistiert und projektiert, sie kennen die Szene. Welche Erlebnisse ihrer Protagonistin autobiografisch sind, lassen sie offen. Dass sie nicht aus der Luft gegriffen sind, machen die lebendigen Beschreibungen dieser seltsamen Parallelwelt voller Hipster, Alkohol, Sex und Drogen deutlich.

Gien gesteht, dass sie vom Kunstbetrieb frustriert und enttäuscht sei. „Man darf nicht vergessen, dass Kunst ein krasses Versprechen ist – der Schönheit, der Bewegung, des Echten.“ Stattdessen herrsche jedoch Diskurstheater und Spektakel. Die Kunst als kritische ­Stimme der Gesellschaft hält sie für tot. Da spricht ­weniger die Autorin als vielmehr die Kulturjournalistin (unter anderem für „Monopol“ und „Die Zeit“). Zuletzt lieferte sie mit Beiträgen über Porno und das weibliche Begehren ­sowie die sexistische Sprache von Feministinnen spannende Denkanstöße.

Diese spiegeln sich im exzessiven (Sexual-)Leben der Ich-Erzählerin. Deren voller Name wird nicht genannt, auch die Namen der ­anderen weiblichen Charaktere bleiben geheim. „Jeder Name einer Frau macht ein Arsenal an Geschichten und Assoziationen auf. Das wollten wir vermeiden“, sagt Marlene Stark, deren Vorname natürlich die Frage aufwirft, ob sie nicht hinter M steckt. „Dieses Spiel mit M mag ich besonders, weil es dem Leser und dem, was er von der Geschichte und der Figur erwartet, ­einen Spiegel vorhält. Muss das autobiografisch sein? Was muss wirklich passiert sein? Ab wann und warum interessiert mich das?“

Dieses Spiel treiben sie auf die Spitze, in M kreuzen sich die Lebenswege beider ­Autorinnen. Kollaborationen in der Literatur sind selten, Marlene Stark ist das suspekt. In allen anderen Sparten seien sie „vollkommen normal, während in der Literaturwelt so ein ­Alleinschöpferdasein gepflegt wird“. Anna Gien räumt ein, dass es schon ein Kraftakt sei, „sich den Text eben nicht anzueignen, sondern den anderen in seinem Sprachempfinden und in seiner Sprachverwendung ernstzunehmen und zu akzeptieren, dass er anders denkt und schreibt.“ Sie haben sich zum Teil heftig gestritten, „aber am Ende durfte nur das stehen bleiben, was wir gemeinsam tragen konnten“, so Stark. Um im Streitfall einen gemeinsamen Nenner zu finden, haben sie ganze Passagen umgeschrieben, berichten sie. So sei auch eines der zentralsten Kapitel des Romans entstanden, in dem ein junger Galerist von der Ich-Erzählerin mit einem Umschnall-Dildo heftig gevögelt wird. „Ich glaube, man merkt der Szene an, dass sie aus einem Konflikt heraus entstanden ist“, sagt Anna Gien schelmisch lächelnd.

Nicht zuletzt ist „M“ das Protokoll einer ­Aneignung. Die anonyme Erzählerin beansprucht für alles, was sie umgibt, die Deutungshoheit. Die etablierte Erzählhaltung, in der Männer die Welt beobachten, Frauen hingegen beobachtet werden, stellen Stark und Gien auf den Kopf. Sie versetzen die Leser in den Kopf ihrer traurigen Heldin, die die Welt mit ihrem kritischen Blick rasiermessergleich seziert. Dabei werden Kunst und Sexualität übereinander gelegt, weil „die Kunst so ultimativ phallisch ist“, so Gien. Während es im Roman oft darum geht, wer fickt und wer gefickt wird, halten die Autorinnen die Frage nach dem Schwanz für viel relevanter: „Wenn seit Jahrtausenden alles schwanzgemacht oder schwanzgedacht oder schwanzgesprochen ist, was bin dann ich als Frau im Verhältnis zu diesem Schwanz?“
Eine Antwort auf diese Frage ist „M“.

M von Marlene Stark & Anna Gien, Matthes & Seitz Berlin, 248 S., 20 €.

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