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Thilo Mischke im Gespräch über sein neues Buch „Alles muss raus“

„Alles muss raus. Notizen vom Rand der Welt“, so heißt das neue Buch des „Uncovered“-Journalisten Thilo Mischke: ein persönliches Werk über Tod, Liebe, Freundschaft, Krieg, Freiheit und Religion. Der international tätige Reporter berichtet über seine Zeit in El Salvador und Syrien, im Irak, Kongo, Nordkorea – und Brandenburg. Wir haben den Journalisten getroffen und über sein neues Buch gesprochen.

Thilo Mischke erhielt bereits einige Preise für seine Arbeit – unter anderem den Bayerischen Rundfunkpreis in der Kategorie Information für seine Reportage "Deutsche an der ISIS-Front". Foto: Imago/Bayerische Staatskanzlei
Thilo Mischke bei der Preisverleihung des Bayerischen Rundfunkpreises in der Kategorie Information für seine Reportage „Deutsche an der ISIS-Front“. Foto: Imago/Bayerische Staatskanzlei

Thilo Mischke: Es beginnt mit dem Tod

Seit 2016 ist Thilo Mischke für die Pro-Sieben-Doku-Reihe „Uncovered“ auf der gesamten Welt unterwegs, berichtet über den Krieg in Syrien, trifft sich mit Deutschen, die aus eigener Überzeugung zum „Islamischen Staat“ gegangen sind und für diesen in den Krieg ziehen. Er berichtet über Mexiko, El Salvador, Nordkorea und über Rechtsradikalismus in Deutschland: Die Reportage „Rechts. Deutsch. Radikal“ verzeichnete im September 2020 mit 1,33 Millionen Zuschauenden im Alter zwischen 14 und 49 Jahren die höchsten Einschaltquoten an diesem Abend.

Was Thilo Mischke Arbeit nennt, können sich die meisten von uns nicht einmal im Traum vorstellen. Er und sein Team laufen auf jedem Dreh Gefahr, angegriffen oder entführt zu werden, denn weder Drogenkartelle noch der „Islamische Staat“ machen vor ausländischer Presse Halt.

Und weil er sich seit mehr als fünf Jahren in Gefahr begibt, wurden seine Gedanken immer schwerer. Er kehrt nach Berlin zurück, Familie und Freund:innen waren erleichtert, dass ihm und seinem Team nichts zugestoßen ist, aber die Angst bleibt. Small Talk über die Erlebnisse auf seinen Reisen ist dem Journalisten unangenehm; auf ein bewunderndes „Wow, was du so machst“, weiß er meist nicht, was er antworten soll.

„Alles muss raus“: Erst wollte Mischke gar kein neues Buch schreiben

Die Idee zu „Alles muss raus“ kommt ins Spiel. Seine Verlegerin bat ihn, seine Erlebnisse aufzuschreiben; erst einmal 40 Seiten, um ein Gefühl davon zu bekommen. Er selbst dachte sich dabei: „Wer interessiert sich denn dafür, was ich denke? Wer bin ich, dass es interessant sein könnte, was ich zur Welt denke?“

Zudem habe er sich eigentlich geschworen „nie wieder ein Ich-Buch zu schreiben“, erklärt er uns. „Ich hatte mir vorgenommen, eigentlich einen Roman zu schreiben.“ Aber die ersten 40 Seiten hinterlassen einen bleibenden Eindruck bei der Verlegerin und so schreibt Thilo Mischke weiter. Über Krieg, den er erlebt, Freiheit, Liebe, Kinder, Religion, Freundschaft und Tod.

Ihm sei von Anfang an klar gewesen, dass er das Buch mit dem Tod anfangen wolle. Und so bekommen Leser:innen direkt zu Beginn des Buches einen Einblick, wie es in El Salvador ist und wie Mischke mit einem Forensiker den Körper eines toten Jugendlichen ausgrub, um die Todesursache zu ermitteln. Zugleich erfährt man vom Tod der Großmutter Thilo Mischkes.

„Meine Oma spielt für mich, für meine Familie, eine sehr wichtige Rolle, und das war das erste, was ich mitteilen wollte“, erklärt er. Um also den Leser:innen annähernd begreiflich zu machen, was er in Krisengebieten der Welt erlebt, zeigt er in jedem Kapitel zwei Seiten: Schauplätze überall auf der Welt einerseits, andererseits den Blick auf Mischkes Leben in Berlin und Brandenburg. „Als ich das aufgeschrieben habe, das erste Kapitel, habe ich gemerkt: Das ist der Weg, wie ich Leserinnen und Leser in Deutschland erreiche. Denn diese können – egal wie detailliert ich El Salvador erzähle – das nicht nachvollziehen.“

„Alles muss raus“: Ein Buch als Therapie

Erst ging er persönlich durch die schlimmsten Orte der Welt, um über sie zu berichten, danach erlebte er sie erneut, um das Buch zu schreiben. Während des Schreibprozesses habe er das nicht so empfunden, doch nachdem er das fertige Manuskript mit ingesamt zehn Kapiteln von Grönland aus abschickte, habe er gemerkt, dass das Buch eine Art Therapie gewesen sei. „Und das macht traurig, ich hätte es nicht gedacht. Ich dachte, das wäre Arbeit. Ich dachte, ich schreibe es einfach auf, das ist wie immer. Aber ich hätte nicht gedacht, dass mich das so bedrückt.“

Das Buch sei jedoch die beste Methode, um diese Dinge – den Tod der Großmutter, den Verlust eines besten Freundes, das Älterwerden des Vaters – zu verarbeiten. Auch, wenn es ihm im Schreibprozess „wahnsinnig schlecht“ erginge und er „sehr oft geweint“ hätte.

Neben den persönlichen Einblicken in Mischkes Leben, die man durch das Buch gewinnt, erkennt man seine Einstellungen zur Welt und zum Weltgeschehen. Westliche Arroganz spielt hierbei eine große Rolle, genauso wie der Kerngedanke: „Nicht Krieg ist der Ausnahmezustand, sondern Frieden. Das zu erkennen war wohl das Krasseste überhaupt in den letzten sechs/sieben Jahren“.

Normalität an den gefährlichsten Orten der Welt

Und genau weil die Situationen vor Ort etwas mit einem machen, gilt es für ihn und sein Team: Normalität vor Ort bewahren. „Am Abend, nachdem man im Safe House angekommen ist, sucht man sich die nächste Schwimmhalle“, erklärt der begeisterte Schwimmer.

Doch nicht nur Annehmlichkeiten wie eine Schwimmhalle erden ihn, sondern auch sein Gepäck, das immer so gepackt ist, dass er sich ein kleines Zimmer einrichten kann: „Auf kleinstem Niveau, aber ich fühle mich dann da zu Hause“.

Normalität in Berlin bedeutet für ihn, U-Bahn zu fahren, in Cafés zu sitzen – insbesondere im Café Intimes in Friedrichshain – und festzustellen, „dass hier nichts bedrohliches ist“. Denn: „Selbst die schlimmste, ausgetickteste Demo hier ist nicht bedrohlich im Vergleich zu dem, was vor Ort bedrohlich ist.“ Es gehe knallhart zurück in den Alltag, ohne Pause, ohne kurz Luft holen.

Journalist Thilo Mischke auf dem Cover seines neuen Buches "Alles muss raus". Foto: Droemer Knaur
Journalist Thilo Mischke auf dem Cover seines neuen Buches „Alles muss raus“. Foto: Droemer Knaur

Mischke berichtet in „Alles muss raus“ außerdem über seine Beweggründe, dahin zu gehen, wo Krieg ist. Denn egal wie oft man die Gründe hinter der journalistischen Ehre oder dem Ethos, das zu zeigen, was in den Ländern vor sich geht, versteckt – was natürlich auch einer der Beweggründe ist, Kriegreporter:in zu sein – es käme immer wieder auf das eine zurück: Die egoistische Handlung dahinter. „Ganz tief innen drin ist es ‚Du willst dahin‘, ‚Du willst das sehen‘“, so Thilo Mischke.

Dabei ist er erstaunlich gelassen: „Jedes Kriegsgebiet ist Berichterstattung mit Stützrädern, denn du weißt, du kannst hier raus. Die Botschaft ist informiert, du hast Notfallnummern, die du im Schuh mit dir rumträgst.“ Doch dann findet man sich wie Thilo Mischke und sein Team im Dschungel wieder, zwischen Kolumbien und Panama im Darién Gap, einer Route, die flüchtende Menschen aus Südamerika nutzen, um in den Norden zu gelangen. Von seinen Reportagen hat ihn diese wohl am meisten beeindruckt.

Thilo Mischke: „Ich will auch nichts entdecken, ich will einfach nur gammeln und gurken“

„Im Darién Gap war es zum allerersten Mal in meinem Leben so – und ich hoffe auch das einzige Mal in meinem Leben; diese Erfahrung möchte ich nie wieder haben – ‚Hier kannst du einfach jede Sekunde sterben‘. Dieses Mantra macht was mit einem Menschen, wenn du sechs Tage läufst. In dem Moment, wo du Zeit hast zu denken – und wenn du läufst, hast du viel Zeit zu denken – ist die Meditation, nicht zu sterben. Und das ist schon krass.“

Wir wollen wissen: Wenn man all dies erlebt, was motiviert einen dann noch weiterzumachen? „Zuerst einmal finde ich die Welt immer noch sehr schön“, erklärt er. 109 Länder hat er bereits bereist, Orte wie den Jemen, Sachalin oder auch die Antarktis möchte er gern noch besichtigen. Lieber sei ihm allerdings, dorthin zurückzukehren, wo er bereits war. „Es gibt eher Orte wo ich hin will, um da abzugammeln und rumzugurken. Ich will auch nichts entdecken, ich will einfach nur gammeln und gurken.“

Und dann sei da noch die Sache mit den Menschen: „Ich rede unfassbar gerne mit Menschen. Und das motiviert mich. Denn es gibt noch ein paar Menschen, mit denen man reden kann.“

„Das Wertvollste an Berlin ist die Anonymität“

Und wenn er gerade nicht mit Menschen auf der ganzen Welt redet, dann ist er in seiner Heimat Berlin. Er verbringt Zeit mit seiner Familie, seinen Freund:innen, seiner Partnerin. „Ich bin in Berlin glücklich“, sagt Mischke. Er könne sich nicht vorstellen, woanders hinzuziehen. „In Berlin werde ich fast kaum angesprochen auf der Straße. Kommt man nach München oder Köln passiert das sehr oft, was ja nicht schlimm ist und ich finde das auch echt cool, aber du merkst wie anonym diese Stadt ist. Das Wertvollste an Berlin ist nicht das Berghain oder das Sisyphos, sondern die Anonymität.“

Zum Schluss verrät er uns noch, wovon er träumt. Diese Frage stellt er normalerweise den Menschen, mit denen er spricht – jetzt ist er an der Reihe. „Ich träume davon, so lange wie möglich Teil von dieser Welt zu sein und beobachten zu können, wie sie sich entwickelt.“

  • Alles muss raus. Notizen vom Rand der Welt Droemer Knaur, 208 Seiten, 20 Euro, www.droemer-knaur.de
  • Buchpräsentation 9.3.22, 20 Uhr, Pfefferberg Theater, Tickets hier

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