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Interview

Thomas Meinecke spricht über das Nicht-Binäre, Maos rote Bibel und West-Berlin

Der Schriftsteller, Musiker und DJ Thomas Meinecke ist derzeit Gastprofessor für deutschsprachige Poetik an der FU Berlin. Wir sprachen mit ihm über das Nicht-Binäre, Maos rote Bibel, die Mauerstadt und warum er nicht Mitglied im neuen PEN wurde.

Der Schriftsteller Thomas Meinecke auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Foto: Imago/Hoiffmann
Der Schriftsteller Thomas Meinecke auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Foto: Imago/Hoffmann

Wir sind aus Plastik. Dann bin ich glücklich geworden.

tipBerlin Herr Meinecke, Sie bewegen sich als Schriftsteller in der akademischen Welt, traten gerade Ihre Gastprofessur an der Freien Universität Berlin an, Sie sind aber als DJ und Musiker genauso im Pop und Underground zuhause. Wie passen diese verschiedenen Wirklichkeiten zusammen?

Thomas Meinecke Mich interessiert jeweils der Bereich dieser verschiedenen Welten, wo man zwischen den Wirklichkeiten nicht unterscheiden muss. Als jemand, der in den 1950er-Jahren geboren wurde, war ich teilweise sehr gelangweilt von der Popmusik. In meiner Pubertät, also den 1970ern, wollte ich das Gegenteil der Rockmusik und interessierte mich nicht für die so genannte „Authentizität“ und Macho-Gitarren. Da habe ich lieber Gustav Mahler oder Thelonious Monk gehört. Erst Mitte der 1970er kamen Punk und Disco als Gegenentwürfe zum Rock auf und beide wollten nicht authentisch sein, sondern sagten: Wir sind aus Plastik. Dann bin ich glücklich geworden.

tipBerlin In Deutschland gelten Sie durch Romane wie „Tomboy“ als Vordenker der Gender beziehungsweise Feminist Studies und operierten mit dem Begriff „Queerness“, bevor er im Mainstream ankam. Woher kam Ihr frühes Interesse für diese Thematik?

Thomas Meinecke Ich bin tatsächlich seit den späten 1990er-Jahren an vielem interessiert und beteiligt, was mit den Gender Studies zusammenhängt. Da bilden sich ständig neue begriffliche Knotenpunkte, die man weiterdenken kann. Von der reinen feministischen Ausrichtung bis zu den Texten von Judith Butler und den daraus hervorgegangenen Queer Studies. Da geriet dann die „Männlichkeit“ ins Blickfeld, was ich anfangs nicht wollte, weil es sich wie eine feindliche Übernahme anfühlte, wenn wir Männer von unseren Problemen reden. Aber wir sind die Verursacher der Probleme. Mittlerweile sind Konzepte von geschlechtlichen Identitäten entstanden, die ich mit dem Begriff des „Nicht-Binären“ wieder im freieren Gelände verorte. 

Ich bin schon so alt, dass ich weiß, dass ständig etwas Neues kommen wird, was mich überrascht und herausfordert.

tipBerlin Darum ging es auch in Ihrer Antrittsvorlesung „Für eine Poetik des Nicht-Binären“, richtig?

Thomas Meinecke Genau. Der Begriff impliziert, dass diese Pole der geschlechtlichen Identitäten existieren, aber das Interessante daran ist das, was dazwischen passiert, dass diese Identitäten immer nur eine Relation sind. Ein Verhältnis zwischen den Dingen, die verabredet sind und verabredet sein dürfen. Ich nenne diese Form des Schreibens auch gerne fluid.

tipBerlin Ist das ein Beispiel für die Überschneidung von akademischer Theorie und Pop-­Zusammenhängen?

Thomas Meinecke Hier sehe ich Parallelen zur Beschäftigung mit Musik. Die Gender Studies waren in den 1990er-Jahren eine Form des neuen Denkens und das ist ähnlich wie das Interesse an neuen Sounds, von denen man sich überraschen lässt. Ich bin schon so alt, dass ich weiß, dass ständig etwas Neues kommen wird, was mich überrascht und herausfordert. Ob bei akademischen Theorien oder neuen Platten. Selbst in der vermeintlichen Wiederholung, die von vielen nicht als neu erkannt wird, ist aber die Differenz zwischen dem Dagewesenen und dem bekannt erscheinenden Neuen, der
eigentliche Reiz. 

tipBerlin In dieser Differenz liegt der Kick?

Thomas Meinecke Finde ich schon. Das nie vorher Dagewesene interessiert mich nicht, sondern immer nur die Überschreibung, Variation, das Zitat. Das begann im Pop schon sehr früh, mit den Vaudeville-Shows oder der Hollywood-Ikone Mae West, dann kamen Little Richard, David Bowie, Roxy Music und viele mehr. Das ist eine Idee von Pop, die man im Warhol‘schen Kontext früher vielleicht nicht als „queer“ bezeichnet hätte, aber es war die Welt des „Camp“. Eine selbstironische Lesart von Kultur. So bin ich geprägt und das traf sich gut mit der feministischen Dekonstruktion, die das Ganze unter die Lupe legte.

tipBerlin In Ihrer dialogischen Veranstaltungsreihe „Plattenspieler“, die man in Berlin 14 Jahre lang im HAU erleben konnte, sprechen Sie mit Ihren Gästen über die Verflechtungen von Musik und eigenem Leben. Wie wichtig ist die Biografie für die Erforschung von Kultur? 

Thomas Meinecke Die Biografie ist von daher wichtig, weil wir dadurch Standpunkte erkennen, von denen aus wir sprechen. Ich bin in diesen Dingen gewachsen, muss mich aber auch zu Fehlern bekennen. Als Elfjähriger habe ich mir auf dem Hamburger Fischmarkt die rote Mao-Bibel gekauft. Das war in einem Zustand des Ahnens und Spürens, ohne es wirklich zu wissen. Ich wusste damals nicht, dass durch die Kulturrevolution Millionen von Menschen sterben würden. Deshalb kann ich meine damalige Faszination von Maos Idee der permanenten Revolution nicht negieren. Das geht nicht. Genauso meine einstige Neigung zur RAF. Das sind Standpunkte, die mit der eigenen Biografie zu tun haben. Und damit, dass die BRD meiner Jugend in direkter Kontinuität des Nazi-­Regimes stand. Damals saßen noch überall Leute in hohen Positionen, die NSDAP-Mitglieder gewesen waren. 

tipBerlin Warum haben Sie als Linker Ihre Heimatstadt Hamburg verlassen und zogen im Punkjahr 1977 nach München? 

Thomas Meinecke Ich war damals glühender Anarchist und das war einer der Gründe, die mich an München reizten. Denn außer in Barcelona hat man es eben nur dort, 1919, mit Anarchismus probiert. In diesem München tummelten sich Lenin, Landauer, Mühsam und Duchamp. Es gab dieses verrückte München, später auch mit Leuten wie dem heute nach rechts abgedrifteten Regisseur Hans-Jürgen Syberberg, der damals eigentlich so etwas wie „High Camp“ gemacht hat, dazu kamen Fassbinders München und Disco. Mich hat es in den mit Widersprüchen lustvoll umgehenden katholischen Süden gezogen. Meine Freunde aus Hamburg sagten aber: Du spinnst ja, du ziehst von Punk nach Disco!

Da haben die eine Tour gemacht, die „Die Berliner Krankheit“ hieß

tipBerlin Sie hätten auch nach West-Berlin ziehen können. Warum wollten Sie nicht?

Thomas Meinecke Nein, das war mir dort zu gemütlich. Diese romantische Vorstellung von Geschlossenheit hinter der Mauer war mir zu wenig. Ich mochte das BRD-hafte, die Affirmation war damals mein ästhetisches Prinzip: Dissidenz durch Affirmation. In den 1980ern war ich mit meiner Band F.S.K. auf demselben Label wie die Einstürzenden Neubauten, bei ZickZack aus Hamburg. Da haben die eine Tour gemacht, die „Die Berliner Krankheit“ hieß, und wir nannten zwei Monate später unsere Tour „Die Westdeutsche Gesundheit“. 1986 war ich dann länger in West-Berlin als Stipendiat im Literarischen Colloquium Berlin. Ich übernahm nach Rainald Goetz das Turmzimmer und in diesen sechs Monaten schrieb ich die Erzählung „Holz“, die in der Mauerstadt rund um die 750-Jahr-Feier spielt. Da versucht einer „Taxi Driver“-mäßig, den damaligen Regierenden Bürgermeister Diepgen zu erschießen. Etwas manieriert, aber mein erster längerer Text.

tipBerlin Nach dem Mauerfall wurde Berlin mit der Club- und Technokultur vermutlich interessanter für Sie?

Thomas Meinecke Ich mag die Stadt, auch weil sie so viel hervorgebracht hat, aber es stimmt schon, es sind eher die 1990er-Jahre, die ich schätze. Ich bin häufig in Berlin, mein Publikum ist hier, mein Verlag, die Reihe „Plattenspieler“, ich habe auch schon im Berghain und im Golden Gate aufgelegt und jetzt kommt
noch die Gastprofessur hinzu. 

tipBerlin Anfang Juni hat sich um Deniz Yücel der PEN Berlin gegründet, Ihren Namen findet man nicht unter den etwa 350 Mitgründer:innen. Warum?

Thomas Meinecke Ich bin 2016 aus dem PEN ausgetreten, weil das Präsidium eine Israel-kritische Verlautbarung herausgegeben hat, die ich unglaublich schlimm fand und in der ganz klar antisemitische Rhetorik benutzt wurde. Das hat ein wenig für Aufsehen gesorgt, seitdem werde ich von der alten Garde nicht mehr gegrüßt und gelte als Nestbeschmutzer. Kurz darauf wurde ich vom PEN in New York eingeladen und bin dort eingetreten. Als ich jetzt gefragt wurde, ob ich dem PEN Berlin beitreten will, dachte ich, eine Mitgliedschaft reicht. Ich bin eh nicht so ein Vereinstyp.


Werkstattgespräch

Thomas Meinecke und Steffen Mensching im Literarischen Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, Zehlendorf, Mi 29.6., 19.30 Uhr


Neues Buch von Thomas Meinecke

Ozeanisch schreiben. Drei Ensembles zu einer Poetik des Nicht-Binären von Thomas Meinecke, Verbrecher Verlag, 160 S., 19 €


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